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Buch-Tresen | 06.02.2025
Historische Dystopien II
Ein Roman der Stunde: "Wir" von Jewgeni Samjatin (1920). Unsere Rezensentin geht erst zu seinen Wurzeln, um dann die Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.
Text: Beate Broßmann
 
 

Kurz nach der Oktoberrevolution – Lenin war noch am Leben und Stalin spielte noch keine herausragende Rolle in der bolschewistischen Staatspolitik – verfaßte der russische Schriftsteller Jewgeni Iwanowitsch Samjatin (1884 bis 1934) seinen ersten Roman und nannte ihn schlicht „Wir“. Der Roman selbst hat einen Eintrag bei Wikipedia, in dem die Handlung detailliert dargestellt wird. Ich beschränke mich deshalb an dieser Stelle auf die Aktualität.

Samjatin ist Bolschewist gewesen und hatte sich an vorderster Front an den beiden russischen Revolutionen des Jahres 1917 beteiligt. Sein Herz schlug für den Sozialismus. Er strebte keinen Gang ins Exil an, wie das sein Schriftstellerkollege Wladimir Nabokow von Beginn an tat. Er gehört vielmehr zu der Jahr für Jahr größer werdenden Gruppe der enttäuschten Intellektuellen seines Landes. Unter den großstädtischen Künstlern und Denkern hatte sich der europäische Zeitgeist, geprägt von Marinettis Futuristischem Manifest, verbreitet. Man verehrte die Geschwindigkeit, die Maschine und jedwede moderne und gigantische Technik. Und man meinte, mit der Überführung des gesamten Wirtschaftssektors in Staatseigentum über bessere Voraussetzungen für ihre Entwicklung und ihren lebensverbessernden Einsatz für alle zu verfügen als der Westen Europas oder gar Amerika. Aber einige Wenige hatten schon sehr früh ein Gespür dafür, welchen Preis dieses einseitige Setzen auf Verstand, Rationalität und Rationalisierung, auf die Logik der Zahlen und die Effektivität verlangte: die Preisgabe des Individuellen, Emotionalen und Seelischen. Wer einen gesellschaftlichen Körper als Maschine begreift, sieht in den Menschen nur Zahlen und Arbeitssklaven. Auch daß es offizielle Doktrin war, dem guten Ziel jedes Mittel dienstbar zu machen und Gewaltanwendung gegen (angebliche) Feinde zu legitimieren, widersprach dem humanistischen Ideal so manches Aktivisten der ersten Stunde.

Der Schriftstellerkollege und Genosse Samjatins, Alexander Alexandrowitsch Bogdanow (1873 bis 1928), gehörte zu den Technikenthusiasten und sozialen Utopisten. Seine beiden Romanen „Der rote Planet“ (1908) und „Ingenieur Menni“ (1912) sind veritable technokratisch-kommunistische Utopien, die auf dem Mars spielen. Lenin lehnte sie wegen ihres utopisch-versponnenen Charakters ab. Samjatin reagierte auf sie in Form einer Dystopie, die die sozialen, psychischen und politischen Konsequenzen der technokratischen Herangehensweise Bogdanows ausmalte. Das machte ihn in der Parteiführung unbeliebt, und nach anfänglicher Ablehnung kehrte er mit der Einwilligung Stalins 1931 seiner Heimat erneut den Rücken (er war vor den Revolutionen im englischen Exil) – diesmal für immer.

In seiner Dystopie „Wir“ läßt Samjatin den Konstrukteur des Raumschiffs „Integral“, den Mathematiker D-503, ein Tagebuch führen (diesen Fehler wird fast 30 Jahre später auch Orwells Protagonist Winston in „1984“ begehen), in dem dieser zunächst seine glückliche Welt vorstellt – einem späteren, unbekannten Leser. Denn der Einzige Staat, der vor 200 Jahren den Krieg ausgerottet hatte und vom Großen Wohltäter geleitet wird, kommt ihm perfekt vor: Er ist technisch wohlgeraten und regelt jedes Detail des Lebens der Nummern. Kein Chaos mehr, nichts Unvorhergesehenes, keine Unsicherheit. Jede Nummer hat die Pflicht, gesund zu sein. Das Leben strotzt vor organisatorischer Schönheit: Das „segensreiche Joch der Vernunft“ sorgt für ein „mathematisch-fehlerfreies Glück“.

Wir werden die wilde, krumme Linie geradebiegen, sie zur Tangente, zur Asymptote machen. Denn die Linie des Einzigen Staates ist die Gerade. Die große, göttliche, weise Gerade, die weiseste aller Linien.

Er schwärmt für die durchgängig gläsernen Häuser, die zu beruhigender Transparenz führe.

Ich liebe einen sterilen, peinlich sauberen Himmel. Nicht ich allein, wir alle, ich täusche mich nicht, lieben ihn.

Der Tanz ist für ihn die ultimative Bewegung, weil er „eine unfreie, eine gebundene Bewegung ist, weil sein tieferer Sinn die vollkommene ästhetische Unterwerfung, die ideale Unfreiheit ist“. Denn: „Der Trieb zur Unfreiheit ist dem Menschen angeboren“. Sei die Freiheit des Menschen gleich Null, begehe er keine Verbrechen und sei auch keinen ausgesetzt. Von seiner Zimmerwand blickt ihn die Gesetzestafel des Einzigen Staates an. Sie besteht aus Regeln und einem Tagesplan.

Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Exerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen.

Jeden Morgen geht er „sauber destilliert und durchsichtig zur Halle hinunter.“ D-503 kann sich nicht vorstellen, wie die Menschen früher in Freiheit lebten, also unorganisiert und somit wie Wilde. Sie sollen sich freiwillig in „Begeisterung“ versetzt lassen haben, also eine Form der Epilepsie. Und sie sollen es in der Wissenschaft schon weit gebracht, aber verwunderlicherweise keine Kinderzucht betrieben haben.

Zunächst hatte der Einzige Staat den Hunger besiegt, bald danach auch die Liebe. Mit dem Lex sexualis, nach dem einer jeden Nummer das Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner zusteht, hat er aus der Quelle unzähliger und sinnloser Tragödien „eine harmonische, angenehm-nützliche Funktion gemacht“.

Bis vor Kurzem war des Mathematikers Gehirn „ein chromatisch regulierter, blitzender Mechanismus ohne das geringste Stäubchen“. Doch plötzlich fängt er an zu träumen – überzeugt davon, daß es sich bei dieser Erscheinung um eine psychische Krankheit handelt. Der Grund: Er hatte eine attraktive Frau kennengelernt, die gefährliche Dinge denkt und sagt und die, wie er später erfährt, für den Widerstand arbeitet. Er müßte sie denunzieren, aber mit der Entwicklung eigener Gefühle, Empfindungen, Fantasien und Gedanken beginnt eine Phase der distanzierteren Beobachtung seiner Welt, zumal ein zu Rate gezogener Arzt das Vorhandensein einer Seele diagnostiziert und er von nun an in der Öffentlichkeit vorsichtig agieren muß. Der Große Wohltäter weiß wohl über diese Entwicklung in der Bevölkerung Bescheid, und so kommt es, daß just in der Zeit der Etablierung einer wehrhaften Opposition der Sitz des Fantasiezentrums im menschlichen Gehirn geortet oder verortet wird und sich jede Nummer einer Gehirnoperation unterziehen muß. Im Ergebnis wird jeder Widerstand gegenstandslos, und auch unser „Held“ fällt in seinen glücklich-beschränkten Geistes- und Gemütszustand in einem großen WIR zurück.

Die Parallelen zur Gegenwart drängen sich auf. Erst recht, wenn im Text die Rede ist von der Macht, die die Quelle der Wahrheit sei, was die Wahrheit zu einer Funktion der Macht werden lasse. Und schwärmte D-503 noch von „Telegraphen, Dynamos, Transformatoren, Höhenmessern, Ventilen, Zeigern, Motoren, Pumpen und Röhren“, zwischen denen winzige Nummern wimmelten, gilt die Faszination der Technokraten heute Gentechnik, implantierten Chips und omnipräsenter digitaler Technik in Innen- und Außenwelten. Das Prinzip ist das gleiche: Optimierung der Menschen und ihrer Lebenswelt durch Organisation und Technologie nach den Maßstäben der Nützlichkeit – für Weltenlenker oder solche, die es werden wollen.

Bildbeschreibung

Jewgenij Samjatin: Wir. Neuer Deutscher Verlag 2020, 173 Seiten, 9 Euro

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Am Buch-Tresen steht sie jeden zweiten Donnerstag.

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Bildquellen: Brian Merrill @Pixabay