Was veranlasst mich dazu, einen Roman zu rezensieren, der bereits vor hundert Jahren geschrieben wurde? Es ist die Haltung des Protagonisten, die mich inspiriert. Ich gestehe, ich schätze Menschen, die die Fähigkeit besitzen, ihren Verstand einzusetzen und den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Der Romanheld Harry Haller, ein Intellektueller mittleren Alters, auch Steppenwolf genannt, ist der Prototyp eines solchen Individuums. In einer Zeit wie der unseren, in der der Konformitätsdruck und die mit ihm einhergehenden Zensurmaßnahmen seitens des Staates bedrohliche Formen annehmen, kann uns der Steppenwolf ein Lehrbuch in Sachen Standhaftigkeit sein.
Haller ist der Antipode eines jeden Mitläufers. Er geht seinen individuellen Weg und lässt sich von den gesellschaftlichen Zwängen nicht beirren. Er hat sich radikal von den Konventionen und Anforderungen seines sozialen Kontextes distanziert. Sein Umfeld empfindet er als oberflächlich und hohl. Er fühlt sich von der Gesellschaft entfremdet und strebt nach einem tieferen Verständnis vom Leben. Geleitet von dem Wunsch nach Freiheit und Autarkie begibt er sich auf eine von Selbstreflexion getragene emotionale Reise ins eigene Innere. Haller ringt mit einer tiefen Zerrissenheit – halb Mensch, halb Wolf. Er nimmt seine innere Ambivalenz zwischen Geist und Trieb bewusst wahr und sucht nach Auswegen aus seiner Einsamkeit.
Alles ändert sich, als er auf Hermine trifft, eine junge, lebenserfahrene Frau. Sie schafft es, ihn aus seiner Isolation zu befreien, indem sie ihm bislang unbewusste Aspekte seiner Persönlichkeit spiegelt. Mit therapeutischem Feingefühl nimmt sie ihn an die Hand und führt ihn ins „Magische Theater“, eine surrealistische Traumwelt, wo die Grenzen zwischen ICH, Über-Ich und Es so sehr verschwimmen, dass Haller sich selbst in unendlich vielen Spiegelbildern begegnet. Er wird sich gewahr, dass er nicht nur aus zwei Seelen besteht, sondern potenziell alle menschlichen Aspekte in sich trägt. Er realisiert, dass das, was wir gemeinhin als Identität bezeichnen, letztlich nicht mehr als ein soziokulturell bedingtes Gedankenkonstrukt ist.
Der Steppenwolf ist keine leichte Lektüre. Es ist ein Roman, der seine Leser herausfordert und sie mit der Vielschichtigkeit der eigenen Psyche konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Konflikten, Ängsten und dunklen Seiten kann zu einer größeren innerpsychischen Freiheit führen. Hermann Hesse beschäftigte sich seinerzeit intensiv mit der Psychoanalyse. Während der Entstehungsphase des Steppenwolfs, in den Jahren 1925 bis 1927, hat Hesse aufgrund einer persönlichen Lebenskrise Carl Gustav Jung mehrmals in Zürich konsultiert. Vieles am Inhalt des Romans ist autobiographisch gefärbt. Hesse hat seine eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse im Steppenwolf literarisch verarbeitet. Das Entscheidende an diesem Roman ist der Geist, der in ihm zum Ausdruck kommt. Ob Hermann Hesse oder Harry Haller: Beide repräsentieren einen Menschen, der sich durch Willensstärke, Eigensinn und Mut auszeichnet.
Die Aktualität des Romans besteht in der Thematisierung eines generellen Grundkonflikts. Es geht um die Frage nach der Identität. Jede Gesellschaft fordert von ihren Mitgliedern, dass sie sich in ein festes System von Konventionen und Anforderungen einfügen. Identität entsteht durch die Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Für Haller stellen diese Zwänge eine Gefahr der Selbstverleugnung dar. Er hinterfragt sie und begibt sich auf die Suche nach dem Kern seines authentischen Wesens. Konformität widerspricht seiner inneren Haltung.
Eines der stärksten Grundbedürfnisse des Menschen ist der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit. Deshalb trauen sich die meisten Menschen nicht, die öffentliche Meinung infrage zu stellen. Denn wer das medial propagierte Narrativ kritisiert, riskiert, sozial isoliert zu werden. Weder Hermann Hesse noch Harry Haller fürchten sich vor sozialer Isolation. Sie haben ausreichend Rückgrat, gegen den Strom zu schwimmen.
Bei der Lektüre des Romans kam mir immer wieder Immanuel Kant in den Sinn. Es scheint so zu sein, dass sich gewisse Phänomene in der Menschheitsgeschichte zyklisch wiederholen. Bereits vor zweihundertfünfzig Jahren hat Kant in seinem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ die Menschen dazu aufgefordert, sich aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu begeben. Faulheit und Feigheit seien die Gründe für den weit verbreiteten Willen, sich einer Obrigkeit zu unterwerfen. „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Kants Postulat „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ möchte man am liebsten den Staatsbürgern unserer Zeit ans Herz legen. Ich wünschte mir, es gäbe mehr Menschen, die sich ihrer Verantwortung hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bewusst wären und den Mut aufbrächten, ihren Verstand „ohne Leitung eines anderen“ zu gebrauchen.
Wer trägt die Verantwortung für die Misere, in der wir uns heute als Gesellschaft befinden? Ist es der Staat, der alles daransetzt, seine Bürger zu bevormunden und zu manipulieren? Oder ist es die Mehrheit der Bürger, die das widerstandslos mit sich machen lässt? Wie heißt es so schön in unserem Grundgesetz? „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Art. 20) Soviel ist sicher, echte Demokratie funktioniert nur mit mündigen Bürgern. Der Wille zur Konformität erwächst aus einem Mangel an Mut, Bildung und Selbstreflexion. Insofern ist Der Steppenwolf eine inspirative Lektüre auf dem Weg zum mündigen Bürger.
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein. (Krishnamurti)
Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Suhrkamp Verlag 2025 (Ersterscheinung 1974), 227 Seiten, 11 Euro.
Dr. Donar Rau hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.
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