Das Buch war ein Notkauf. Flughafen München, auf der Suche nach Lektüre für den Kurzurlaub. Bitte kein Sachbuch, keine Politik, keine Biografie irgendeines Möchtegern-Promis. Die Plots der Krimis, nun ja. So verzweifelt war ich dann doch nicht. Am letzten Kiosk vor dem Gate lachte mich Oma Hildegard an. „Deutschlands coolste Oma übernimmt die Kinderbetreuung“ – der kleine Text unten auf dem Cover versprach keine halben Sachen. Wenn schon, denn schon. Eine Oma mit pinker Jacke, blauem Kleid und Spaß beim Schaukeln. Das konnte so falsch nicht sein, um einmal Mittelstrecke und ein paar freie Tage zu füllen.
Auf der Rollbahn musste ich schon das erste Mal laut lachen: „Altern ist wie Dosentomaten. Passiert einfach.“ Getoppt noch auf der nächsten Seite: „Das Leben ist kurz – lächele, solange du Zähne hast.“ Da bin ich schon mittendrin im Kosmos von Oma Hildegard. Mittsiebzigerin, geschieden, verarmter Adel. Porsche- und Defender-Fahrerin aus Leidenschaft, Feministin der ersten Stunde. Statt in den Yoga-Retreat mit Freundin Tati stürzt sich Hildi nach einem Hilferuf ihrer Tochter in die Vollzeit-Enkelbetreuung, damit Tini im Job durchstarten und der „Schwiegerversager“ sein Start-up endlich zum Erfolg führen kann. Hildi von Henn ist Autorin und Romanheldin in einer Person. Das Rätsel um die Verfasserin lösen weder Verlag noch Internetsuche – auf der Seite hildevonhenn.de finden sich nur die vier Reiter „Herzlich willkommen!“, „Mein Lifestyle“, „Eure Fragen“ und „Schreibt mir“ mit Infos wie diesen:
Mein Buch sehe ich als Schulterschluss: Mütter, Schwiegermütter, Omas, auch Opas, Schwiegerväter und Papas sollten es lesen und hinterher am Abendbrottisch diskutieren, liebevoll. Wir müssen nämlich wieder näher zusammenrücken, unsere Werte diskutieren. Im Leben ist nichts wichtiger als die Liebe. Und sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wie Kant immer so schön sagt. Lesen bildet. Das können Sie sich gleich mal auf einen Post-it schreiben und an den Kühlschrank hängen.
Auf die Frage „Hildi, warum ist Deine Perspektive eigentlich so spannend?“ gibt es diese Antwort:
Naja, ich sage immer, was ich denke. Das scheint ganz erfrischend zu sein. Und ich finde, die heutigen Eltern vorverurteilen sich schon, bevor sie morgens überhaupt unter die Dusche gestiegen sind: Sie halten sich alle für passive Rassisten, Sexisten und Klimasünder. Dabei versuchen diese jungen Erwachsenen ja nur, alles richtig zu machen. Ich bin eine völlig andere Generation und habe dadurch eine andere ganz andere Sicht auf die Dinge. Offenheit, Humor und Selbst-Reflexion sind mir aber sehr wichtig und das macht mich zur Brücke, die alle verbindet. So manch Gedanken führe ich als selbsternanntes „enfant terrible“ dann halt auch gerne mal ad absurdum, um allen den Spiegel vorzuhalten. Aber mir kann ja keiner böse sein ...
Vielleicht braucht es heutzutage genau diese Art Disclaimer zu einem Buch, das den alltäglichen Wahnsinn nicht nur rund ums Erziehen oder besser Nicht-Erziehen der Kinder auf die Schippe nimmt. Und das Leben der Eltern gleich mit. Erlebnisse aus dem Oma-Alltag entlarven die Moral dahinter. „Stuhlkreis der Hölle“, „Verbrennerliebe“ oder „Zirkus-Sexismus“ – die Kapitelüberschriften verraten, wie Hildi die Sache sieht. Schon im Prolog analysiert sie den Feminismus und das, was daraus geworden ist:
Die Mutter, die in Berlin-Prenzelberg auf ihrem Lastenrad das Kind mit der plastikfreien Brotdose in die zuckerfreie Kita fährt, ist gar nicht so emanzipiert, wie sie denkt. Sie geht ja in den meisten Fällen nicht arbeiten, weil sie es will, sondern weil sie es muss. Da krankt eigentlich das System. Früher konnte ein Mann allein die Familie ernähren. Problemlos. Dann wäre der wahre Feminismus die Diskussion: Wer von beiden möchte denn jetzt gehen? Nur: Heute reicht ein Einkommen nicht mehr. Und dann ist da noch die ganze „Care-Arbeit“ und der „Mental Load“, was früher Haushalt, Besorgungen und Freundschaften hieß. Da steht doch eine Systemkorrektur an … Immerhin darf ich noch ganz profan „Oma“ sein, während sich meine Tochter in der Tagesschau als „gebärende Person“ betiteln lassen muss, weil Mütter nicht mehr „Mütter“ genannt werden sollen … Warum machen sich die Menschen heutzutage so viele Gedanken darüber, ob sie Mann, Frau, irgendwas dazwischen oder gar beides gleichzeitig sind? Verstehe ich nicht. Ich habe ja schon mit Dragqueens Tee getrunken, als keiner damit etwas anfangen konnte. Einfach tolerant sein würde doch völlig ausreichen. Wir wollten gleichwertig, nicht gleichartig, als wir auf die Straße gegangen sind … Im Sandkasten ist die Welt jedenfalls noch in Ordnung. Da wird einfach zum Prinzessinnen- oder Fußballförmchen gegriffen und gut.
Hildi macht da nicht mit. Für Sophia und Fritz-Ferdinand organisiert sie Abenteuer im Wald oder einen Ausflug in den Harz. Einkäufe werden genauso zu Erlebnissen wie Kaffeekränzchen oder das Kinderturnen. Den Halbtagskitaplatz bekommt Oma Hildegard genauso wie am Ende eine neue Liebe. Rund um das Kennenlernen auf dem Spielplatz und das Finale auf selbigem entspinnt sich eine eigene kleine Krimi-Geschichte.
Vor dem Happy-End kollidiert der Porsche aber erstmal mit einem Lastenrad. Hildi steigt aus und betrachtet das Rad aus der Nähe:
Es sieht eigentlich genauso unversehrt aus wie mein Porsche und hat sogar einen Namen. „Long John“? Ernsthaft jetzt? Als ich jung war, war der Porsche doch immer die Penisverlängerung, unter den veganen Ökos ist es jetzt also das Tretmobil, das so viel wie ein Kleinwagen kostet und durch seinen E-Antrieb Kinder im Kongo zum Kobalt-Abbau zwingt. Aber lassen wir das. Ich bin kein Fan von moralischer Überheblichkeit. Das lasse ich den jungen Menschen von heute, da sind die ganz groß drin.
Das Rede-Duell mit dem Radbesitzer gewinnt Hildi um Längen. Als ehemalige Stewardess ist sie schlagfertig – und sie kennt die Welt. Kunst, Kultur, Mode, Promis. Die fotografiert Hildi später einfach, als sie mit Ende 20 nicht mehr jobmäßig abheben darf. Eine Regel aus den Arbeitsverträgen der Flugbegleiterinnen damals, die heute als Altersdiskriminierung durchgehen würde, wie Hildi feststellt.
Womit das zweite Thema des Buches angesprochen ist: selbstbewusstes Altern und Alt-Sein. Beige, nein danke. Immer gestylt aus dem Haus gehen. Dann lassen Komplimente nicht lange auf sich warten. Und wenn eine Fahrrad-Mutti den Mann als „übergriffig“ beschimpft, der Hildis Kaschmirkleid samt Trägerin lautstark bewundert, macht diese eine öffentliche Szene, nach der die Radlerin ausgebuht wird und sich die gute alte Schule im Beifall aus der benachbarten Baugrube sonnt.
Oma Hildegard bietet Lebensweisheiten in Hülle und Fülle. Erfahrungs- und Wertewelten zweier Generationen prallen aufeinander:
„Also, Oskar, was soll es denn werden zum Abendbrot? Wonach ist dir denn? Was soll der Papa am Herd zaubern? Nudeln? Oder Pellkartoffeln mit Quark? Oder doch lieber ein Käsebrot?“ Oskar ist ungefähr zwei und hält mit seiner tendenziell indifferenten Antwort nicht hinterm Berg: „Ja.“ Man kann ein Kind auch überfordern, denke ich, während wir an ihnen vorbeischieben. Mitspracherecht ist ja schön und gut, aber dort, wo es sinnvoll ist. Auf die clevere Fragestellung kommt es an: Käsebrot oder Käsebrot? Du kannst einem Kind ja die Wahl lassen, aber dann bitte die richtige. Bedürfnisorientierte Erziehung nennt Tini das. „Es geht um die gleiche Augenhöhe, Mama!“ Aber seit wann ist ein Kind mit mir auf Augenhöhe? Vermutlich handelt es sich vielmehr um Überforderung auf Augenhöhe … Ich bin für liebevolle Grenzen, die haben noch niemandem geschadet … Die jungen Mütter sehen das allerdings anders. Sie wollen alles richtig machen. Die ganz große Nähe aufbauen, indem das Kind den Ton angibt. Ist ja auch ein liebevoller Gedanke. Aber ständig die Oskars dieser Welt fragen, was sie denn gern hätten?
Es folgt eine Gedankenkette von Wir-lassen-unsere-Kinder-niemals-schreien über Ich-trage-Julius-Caesar-gern-und-schiebe-den-Kinderwagen-vor-mir-her oder Die-Kinder-schlafen-bis-zur-Konfirmation-in-unserem-Bett bis hin zu Attachment Parenting, Trageberatung und Nachtkrabbelkursen. Später folgen Hobbywahn in Form von Früherziehung in allem Möglichem und Kursen für die Eltern, die nicht mehr klarkommen.
In short: Existenzielle Verunsicherung, da machen wir nicht mit. Opfer-Eltern produzieren nur Opfer-Kinder. Und die taugen wenig zur Selbstbestimmtheit.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Hildi von Henn: Oma Hildegard und der Spielplatz des Schreckens. Deutschlands coolste Oma übernimmt die Kinderbetreuung. München: Knaur Verlag 2024, 240 Seiten, 12,99 Euro
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