Am Abend wird gesungen. Die Gedanken sind frei. Das klingt selbst in einer Messehalle großartig, wenn alle mitmachen auf den Bierbänken. QR-Code einscannen, Text auf den Handybildschirm zaubern und Susanne Dagen folgen, die oben auf der Bühne steht und mit dem Mikro den Takt vorgibt.
Auch das kann sie also, nach einem langen Tag, der schon morgens Stress bringt mit Polizeiwagen und Sitzblockaden, mit Antifa-Fotografen und Wachmännern, die jeden abweisen, der nicht alle Papiere dabeihat. Regeln sind Regeln. Das kennen wir – und das hat offenbar abgehärtet. Drinnen nur freundliche Gesichter, obwohl jeder eine Geschichte zu erzählen hat von Anfahrt und Einlass. Umleitungen, Uniformen, als Nazi beschimpft und dann noch das Picknick eingezogen. So können die Staatsmedien wenigstens schreiben, dass es lange Schlangen an jedem Stand mit Essen gab. Was soll’s.
Vielleicht sollte man Mitleid haben mit den Kollegen. Die Schlagworte stehen vorher fest. Antaios, Compact, die Junge Freiheit. Ein Szenetreff der Rechten, der unvollständig wäre ohne das Adjektiv „extrem“. Dazu ein paar Namen. Gloria von Thurn und Taxis, Roland Tichy, Götz Kubitschek, Hans-Georg Maaßen. Ergo: alle Stars dabei. Die Regionalpresse ergänzt Uwe Tellkamp, Uwe Steimle, Vera Lengsfeld und hofft wahrscheinlich, dass ihren Lesern jetzt ein kalter Schauer über den Rücken läuft, zumal es in den Tagen vorher noch einen Skandal gab um einen Verlag, der sich in irgendein Verzeichnis geschmuggelt hatte und genügt hätte, um selbst die Konservativsten der Konservativen auf Abstand zu bringen.
Von der Wirklichkeit der Büchermesse Seitenwechsel kann dieser „Journalismus“ nichts erzählen. Ich treffe gleich am Eingang Svenja Herget, eine Lehrerin, die sich dafür einsetzt, dass Kinder zu Hause lernen können, und die vor kurzem bei einem unserer Kurse in der Oberpfalz war. Ein bisschen über 500 Euro für den Ministand, sagt sie. Sonderpreis für Selbstverleger. Eugen Zentner ist ohne seinen Verleger da. Das heißt: Martin Sell ist schon da, aber Massel, sein kleines Haus, wirft nicht so viel ab, um 2000 Euro zu bezahlen. Eugen Zentner arbeitet in Halle für den Kontrafunk. Material sammeln für die Reihe „Tondokument“. Was wir hier aufnehmen, sagt er, füllt die nächsten Monate. Vielleicht ist dort dann auch das zu hören, was ich auf der Bühne zu meinem Büchlein Staatsfunk gesagt habe.
Überhaupt: die große Bühne. Viele Stühle und trotzdem nicht genug. Die Menschen drängen sich an den Rändern und hören zu. Ich darf gleich nach Susanne Dagen sprechen und fühle mich an das russische Märchen vom Pilz erinnert, der am Anfang so winzig ist, dass gerade eine Mücke Platz hat. Das Buchhaus Loschwitz in Dresden, Heimat von Susanne Dagen. Ich war dort zweimal zu Lesungen. Ein Paradies für Leser und Autoren. „Halb verborgen unter Efeu“, raunt Josa Mania-Schlegel in der Leipziger Volkszeitung, ein junger Schreiber, der die Buchhändlerin zu einem Frühstück besucht hat und trotzdem nur die halbe Geschichte erzählt. Nichts von der Kindheit in der DDR. „Innere Bürgerlichkeit“, hat Susanne Dagen 2021 in dem Interview gesagt, das in meinem Buch „Wir sind die anderen“ veröffentlicht worden ist. Nichts vom Angriff mit Buttersäure und Pyrotechnik auf ihren Laden kurz davor. Stattdessen: „scharf abgebogen – nach rechts“. Selbst wenn: Wo sollen denn all die Menschen hin, die diesen Stempel inzwischen tragen? Darf man nur noch schreiben und lesen, verkaufen und auf einer Messe präsentieren, was den Staatsmedien genehm ist? Der winzige Dresdner Pilz jedenfalls ist in den Unwettern der vergangen Jahre so groß geworden, dass der Ausstellungsraum in Halle an der Saale aus allen Nähten platzt. Geschöpfe aller Art. Wie im russischen Märchen. Und das alles ganz privat und ohne Steuergeld.
Das Programm ist an mir weitgehend vorbeigegangen. Zu viele, die einfach nur Hallo sagen wollten und ein bisschen quatschen. Jörg Bernig, Schriftsteller aus Radebeul, den ich gerade für meinen YouTube-Kanal interviewen durfte, hat Gedichte vorgelesen. Gut gefüllt, der Raum, sagt er. Ich bin dann zu Peter Niebergall gegangen, einem Thüringer, der die DDR Mitte der 1980er aus Gründen verlassen und darüber jetzt ein Buch geschrieben hat. Wir wollten weg. Seine Verlegerin ist extra aus der Schweiz gekommen und hat Günter Scholdt dabei, einen Professor im Ruhestand, der den „jungen Autor“ vorstellt (Peter Niebergall ist Jahrgang 1951) und sagt, dass so etwas in Frankfurt oder Leipzig nie und nimmer möglich wäre – da, wo Platzhirsche und Geld regieren und das Publikum den Prominenten hinterherläuft. Scholdt und Niebergall haben gut 50 Zuhörer und bieten nicht nur eine Geschichtsstunde vom Feinsten, sondern auch einen Link zum Lesefest. Wer wissen will, wie es in der DDR vor einem Buchladen zuging, der vier Wochen renoviert wurde und deshalb all das horten musste, was es sonst nur über Beziehungen gab, der sollte sich diesen Wälzer kaufen. Peter Niebergall hat einen Blick für die Absurditäten des Alltags und auch deshalb jetzt ein Déjà-vu nach dem anderen.
Bild: Peter Niebergall (rechts) und Günter Scholdt. Foto: Christian Früchtl
„Mit Rechten lesen“ (LVZ): Ich habe Anselm Lenz (Demokratischer Widerstand) und Frank Höfer (Nuoviso) an ihren Ständen besucht, Diether Dehm in der Wurstschlange umarmt und beim Warten auf das Bier Martina Rellin kennengelernt, eine Westfrau, die mal einen Bestseller über Ostfrauen geschrieben hat und ein paar Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift Das Magazin war. Ich wäre gern auch zu Westend gegangen, zum Europa Verlag, zu Promedia, aber dafür war das Trommeln im Vorfeld offenbar zu laut. Wird vielleicht noch. Ronald Thoden, mein Verleger, hatte seine Reihe „Wissen kompakt“ und die Zeitschrift Hintergrund dem Kollegen von Achtsam ins Auto gepackt, noch einer von den Mini-Unternehmern. Schmuggelware, wenn man so will, vorbei an ein paar hundert Demonstranten und 350 Polizisten. Die einen glauben, Demokratie und Vielfalt zu verteidigen, und die anderen leben beides.
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