070e08dc4a206dbabbe84e90af241412
Welt-Tresen: Sofia | 03.12.2024
Es gibt so ein Land
Es ist nicht das Land, wo Milch und Honig fließen. Aber eins, in dem manches anders und einiges ganz und gar umgedreht ist. Die Rede ist von Bulgarien.
Text: Rumen Milkow
 
 

Der vielleicht größte Unterschied zu Deutschland und zu einhundert Prozent umgedreht sind die Kopfbewegungen beim Ja und Nein sagen. Bedeutet nicken hierzulande Ja, heißt es in Bulgarien Nein. Man erkennt das daran, dass das Gesicht beim Nicken oft etwas grimmig verzogen wird. Es ist kein Kopfschütteln, eher ein Kopfwiegen, das in Bulgarien Ja heißt. Auch die Bedeutung ist anders. Heißt Ja hierzulande „Du hast Recht“, ist es in Bulgarien eher ein „Du, ich versteh Dich“ oder auch ein „Mir gefällt, was Du sagst“.

Seit 2020 gibt es in Bulgarien eine Partei mit dem Namen „Es gibt ein solches Volk“ (Ima takiw narod – ITN). In Deutschland undenkbar. Oder vielleicht doch nicht? Bei den Parlamentswahlen im Juli 2021 wurde ITN mit 24,1 Prozent der Stimmen sogar stärkste Kraft, noch vor der Partei GERB des Langzeit-Ministerpräsidenten Boiko Borissow. Aktuell liegt ITN bei 6,8 Prozent. Gründungsname im Oktober 2019 war „Es gibt kein solches Land“ (Njama takawa darshawa). Die Registrierung wurde allerdings verweigert. In Bulgarien ist vieles möglich, aber eben nicht alles.

Im Sommer gehörte ITN zu einer großen, parteiübergreifenden Mehrheit von 159 Ja-Stimmen bei 22 Nein-Stimmen und zwölf Enthaltungen, die für ein Gesetz stimmte, Informationen zu Homosexualität oder Transgender-Personen von Schulen und Kindergärten fernzuhalten. Kornelia Ninova, Chefin der Sozialistischen Partei (BSP), begründete ihre Entscheidung wie folgt: „Ich wiederhole, was ich seit mittlerweile sieben Jahren sage: Hände weg von den bulgarischen Kindern.“ Zuvor sei sie von bulgarischen Familien, die im Ausland wohnen, auf die Gefahr der Gender-Ideologie hingewiesen worden.

Bulgarien steht mit einem solchen Gesetz, das von der Partei „Wiedergeburt“ eingebracht wurde, nicht alleine. Nicht nur in Russland wurde eine ähnliche Verordnung verabschiedet, sondern auch in den EU-Mitgliedsstaaten Ungarn, Polen und der Slowakei. Darüber hinaus haben auch einige Bundesstaaten in den USA zuletzt ähnliche Gesetze erlassen.

In der bulgarischen Bevölkerung dürfte dieses Gesetz auf breite Zustimmung stoßen. Denn bis heute spielt die Familie, auch aus Mangel an Vertrauen in den Staat, eine zentrale Rolle im Leben der Bulgaren. Wobei mit Familie die traditionelle Familie von Mutter, Vater, Kind und Großeltern gemeint ist, auch wenn diese durch die enorme Auswanderung – etwa jeder Dritte Bulgare lebt im Ausland – seit Jahren am Erodieren ist. Der Slogan „Damit wir am Leben und zusammen sind!“, oft gehört in Bulgarien, bezieht sich in erster Linie auf die Familie und in zweiter auf alle Bulgaren.

Auch was die Gender-Sprache angeht, geht Bulgarien einen anderen Weg als Deutschland. So herrscht beispielsweise bei den weiblichen Akademikern der Wunsch vor, die männlichen den weiblichen Titeln vorzuziehen. Doktorinnen wünschen sich mit Doktor angesprochen zu werden – genauso wie Professorinnen mit Professor. Und das, obwohl es auch in Bulgarien für beide Titel die weibliche Form gibt: Doktorka & Professorka.

Und noch etwas ist anders in Bulgarien: die Wohneigentumsquote. Ende 2023 lag sie dort bei 86 Prozent, in Deutschland waren es zum gleichen Zeitpunkt nur 46 Prozent. Mit anderen Worten: Die allermeisten Bulgaren zahlen keine Miete, während die Mehrheit in Deutschland zur Miete lebt – gar nicht so selten der größte monatliche Ausgabenposten. Dem Deutschlandfunk zufolge leben hierzulande aktuell schätzungsweise 50.000 Menschen auf der Straße und mehr als 600.000 sind wohnungslos. In Bulgarien mit einer Einwohnerzahl von sechs Millionen gab es 2019 lediglich 5.400 Obdachlose.

Einer bulgarischen Bekannten, die in den 1990ern auf einem Sofioter Gymnasium Deutsch lernte, hat die deutsche Grammatik mit ihren strengen Regeln und ihrer sprichwörtlichen Ordnung geholfen, das Chaos und die Unordnung im damaligen Bulgarien zu meistern, etwa die Hyperinflation von über 1.000 Prozent in den Jahren 1996/97. Damals war der Lohn am Ende des Monats mitunter nur noch drei oder vier Dollar Wert. Gleichzeitig verloren viele Menschen ihr Erspartes. Eine Erfahrung, die in Deutschland nur noch sehr wenige selbst gemacht haben.

Bildbeschreibung

Dies ist ein Grund, warum man der Euro-Einführung in Bulgarien eher skeptisch gegenübersteht. Ein anderer sind steigende Preise, die zusätzlich zur aktuellen Inflation bei der Einführung der Gemeinschaftswährung erwartet werden. Die Euro-Einführung musste bereits mehrfach verschoben werden, zuletzt vom 1. Januar auf den 1. Juli 2025. Der bulgarische Lew, der bis heute 1:1 dem Wert der D-Mark entspricht (ein Euro = 1,95 D-Mark = 1,95 Lewa), hat sich seit der Hyperinflation als durchaus stabil erwiesen. Abseits der Touristenorte kommt man mit dem Euro oft nicht weit. Dabei ist Bulgarien nicht das einzige Land der EU, das noch seine eigene Währung hat. Auch in Polen, der Tschechischen Republik, Dänemark, Ungarn, Rumänien und Schweden ist der Euro kein gesetzliches Zahlungsmittel.

Den Demonstrationen gegen die Euro-Einführung gingen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen voraus. Beide waren in aller Regel von der Partei „Wiedergeburt“ organisiert. Auf vielen von ihnen war ich zugegen, um darüber beispielsweise auf Multipolar zu berichten. Bei einem Protest gegen die Euro-Einführung im Dezember 2022 wurden die Demonstranten auf ihrem Weg vom bulgarischen Parlament zum Glaspalast der Europäischen Kommission in der Rakowskistraße von Studenten aus den Fenstern des Gebäudes der Nationalen Akademie für Theater- und Filmkunst unterstützt. Ein Verhalten, dass von Studenten einer staatlichen Hochschule in Deutschland eher nicht zu erwarten ist, denn die Partei „Wiedergeburt“ ist hier eine ausschließlich „nationalistische, rechtsextreme, pro-russische und populistische politische Partei“. In Bulgarien ist auch dies anders. Selbst die Polizisten machten oft den Eindruck, als würden sie mit den Forderungen der Demonstranten sympathisieren.

Anders als in Deutschland verliefen die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen immer friedlich, genauso wie die Proteste gegen die Euro-Einführung. Die Polizisten trugen keine Kampfausrüstung, sondern ganz normale Kleidung. Niemand wurde verhaftet, Wasserwerfer kamen nicht zum Einsatz. Die Beamten blieben auch entspannt, als beispielsweise bei einem Protest vor dem Sitz der Europäischen Kommission Bengalos und am Ende ein riesiger Euro-Schein angezündet wurden. Selbst als Eier und Toilettenpapier auf das Gebäude geworfen wurden, hat die Polizei dies mit nahezu stoischer Gelassenheit hingenommen. Die Reinigung des Gebäudes erfolgte übrigens erst zwei Tage später. Der auf den Protest folgende Tag war ein Sonntag.

Bildbeschreibung

Ein Freund aus Deutschland, der mich bereits mehrfach in Bulgarien besucht hat, meinte diesen Sommer, dass er den Eindruck habe, er könne in Bulgarien alles sagen. Er sagte das, obwohl er Bulgarisch weder spricht noch versteht. Was er eigentlich sagen wollte: Dass er in Deutschland nicht alles sagen kann, beispielsweise beim Thema Corona und Corona-Impfung. Berücksichtigt man die Impfquote, die in Bulgarien gerade einmal 30 Prozent beträgt, während sie in Deutschland bei fast 80 Prozent liegt, dann ist dies keine Überraschung.

Zum Schluss sei noch der Humor der Bulgaren erwähnt, der sich ebenfalls vom deutschen unterscheidet. Das „Bulgarische Orakel“ ist ein Beispiel dafür, auch weil es gerade wieder hochaktuell ist. Dieses Orakel besagt, dass derjenige den Krieg verliert, mit dem Bulgarien verbündet ist. So wie bei den beiden Weltkriegen, als Bulgarien zweimal Verbündeter Deutschlands war. Danach gehörte Bulgarien dem Warschauer Vertrag an, der den Kalten Krieg verloren hat. Heute ist das Land Mitglied der NATO und der Europäischen Union.

Das eigentliche bulgarische Orakel ist die 1996 verstorbene blinde Seherin „Baba Wanga“, auch bekannt als „Nostradamus des Balkans“. Für das Jahr 2025 machte sie eine äußerst düstere Prognose. Laut Baba Wanga wird nächstes Jahr ein Krieg in Europa beginnen. Dieser soll ein noch nie dagewesenes Maß an Zerstörung mit sich bringen und den Beginn der Apokalypse einläuten. Unter anderem hat die New York Post darüber berichtet. Demnach wird dieser Konflikt die Bevölkerung in Europa dezimieren. Einen Lichtblick gibt es: Den Untergang der Welt hat Baba Wanga erst für 5079 vorhergesehen.

Bildbeschreibung

Webseite des Autors

Welt-Tresen

Kolumnen

Berichte, Interviews, Analysen

Michael Meyen: Videos

Freie Akademie für Medien & Journalismus

Bildquellen: Autor (Protest gegen die Euro-Einführung am 3. Dezember 2022 in Sofia)