Manchmal geschehen Wunder. Ja, in Deutschland. Genauer in Bayern. Ruderting, wunderschön im hügeligen Passauer Oberland gelegen, ist so ein Ort. Vielleicht macht die Nähe zu Österreich (15 Kilometer) und Tschechien (keine 50 Kilometer) die Leute hier aufgeschlossener für Neues. Oder generell der Bayerische Wald, in dem Überraschungen an jeder Ecke auftauchen. Eine dieser Überraschungen ist Peter Voglsperger. Peter lebt am Waldrand bei Kanau, einem Dorf im Landkreis Freyung-Grafenau. In einem winzigen Haus ohne Wasser- und Stromanschluss und ohne rechte Winkel – Peter sagt dazu nicht Haus, sondern „Gefäß“. Peter ist das erste Puzzleteil für das Wunder. Denn er ist Einsiedler, Bildhauer und Künstler. Er kann mit Holz, und das auf besondere Weise. Peter nagelt Bretter übereinander, erzeugt damit Wände ohne Anfang und Ende, Räume ohne Ecken. „Das entspricht uns Menschen“, sagt er. „Viel mehr als Ecken, da fühlen wir uns nicht so wohl. Wir brauchen einen Raum um uns herum“, Peter breitet die Arme aus, „der hier am breitesten ist. An den Füßen kann’s enger sein, oben auch. Wichtig ist generell eine gewisse Höhe, die aber nicht überall gleich sein muss.“ Peter kann Leute begeistern, wenn er spricht. Peter hat irgendwann und irgendwo Steffi getroffen, das zweite Puzzleteil.
Steffi Prausch ist eine junge Frau, die sich durchsetzen kann. Und Steffi ist Kindergärtnerin mit Leib und Seele. Ihr Traum: ein eigener Kindergarten, mit ganz viel Natur und Wald und Freiheit. „Wo es mir gut geht und den Kindern“, sagt sie. Diesen Traum hat sich Steffi erfüllt. Seit Februar gibt es in Ruderting am Waldrand einen Naturkindergarten. Ganz aus Holz, gebaut von Peter und einer Schar von Handwerkern. Näherinnen auf Wanderschaft, Zimmerer, Schreiner. Wer gerade Zeit und Lust hatte und auch im Winter keine Scheu, in Kälte und Regen Bretter zu nageln nach Peters Anweisung, Zwischenwände mit Lehm zu befüllen und meist morgens nicht zu wissen, wohin das Gefäß wachsen würde, an dem sie da gemeinsam schaffen. Der Holzlieferant aus dem Ort hat die Bretter geliefert, als das Startsignal von Peter kam. Das Wochenende stand vor der Tür, aber okay. Für ein Wunder braucht es das.
An einem frühsommerlichen Tag im Mai erzählen Steffi und Peter das alles und scheinen selbst immer noch zu staunen, dass es geklappt hat. Wir sehen uns den Kindergarten an, ein Gebäude mit rund 100 Quadratmetern Fläche und sieben Metern an der höchsten Stelle mit einem Guckloch in den Himmel. Lehnen uns an die geschwungenen Wände, riechen das immer noch frische Holz. Peter berichtet, dass innen ein Gerüst stand, von dem aus die Leute gearbeitet haben. Er war meistens draußen, das Anbringen der Holzschindeln sein Job. Für den Hobby-Bergsteiger kein Problem.
Dann kommt Besuch. Bürgermeister Rudolf Müller will sehen, wer sich da für „seinen“ Kindergarten interessiert. Müller ist Puzzleteil Nummer drei. Er kann reden und redet gern. Und er hatte Mut, etwas zu tun, das den üblichen Regeln nicht folgte. Stellt dir vor, du willst etwas bauen, ohne einen exakten Bauplan vorzulegen. Ein Unding. Eigentlich. Rudolf Müller kommt in Fahrt. Erinnert sich, wie oft er auf der Baustelle vorbeigeschaut hat, um sich zu überzeugen, dass tatsächlich etwas entsteht und wenigsten ungefähr den Maßen entspricht, die Peter im ersten Bauplan seines Lebens angegeben hatte. Natürlich gab es Widrigkeiten wie die Fundamente, erst quer zum Hang verlegt. Die mussten Platz machen für Säulenfundamente, damit das Regenwasser unterm Gebäude durchfließen und das Biotop weiter unten erreichen kann. Dort leben Unken, deren Schutz wichtiger schien als eine Oase für Kinder.
„Wir haben es wirklich geschafft, in einem Jahr vom Start mit Planung und Anträgen bei den Ämtern bis zum fertigen Kindergarten“, sagt der Bürgermeister, sichtlich stolz auf diese Leistung. Sogar der Landrat reagierte positiv und hat das Projekt mitgetragen. Die örtliche Presse berichtete gut und mehrfach – auch immer wichtig, wenn Bürgermeister Bilanz ziehen. Auf der Internetseite des Landkreises Passau steht:
„Modern, innovativ und ein tolles unternehmerisches Engagement“ – die Reaktion von Landrat Raimund Kneidinger auf den neuen Naturkindergarten „Fühl Dich wohl“ in Ruderting war überaus positiv. Die von Steffi Prausch betriebene Einrichtung setze sowohl als Privatinitiative als auch als architektonischer Leuchtturm Zeichen und zeige, dass ein privat betriebener Kindergarten sehr wohl eine Alternative zu kommunalen Einrichtungen sein kann. Gemeinsam mit Rudertings Bürgermeister Rudolf Müller zeigte sich der Landrat beim Gespräch mit Steffi Prausch überzeugt, dass die in die Natur eingebettete Betreuung der Kinder ein „absolutes Zukunftsmodell“ sei. Vor allem beeindrucke die Bauweise, die ein in dieser Form im Landkreis einzigartiges Gebäude erschaffen habe. Damit sei der Naturkindergarten auch ein Ausdruck für den „Mut zu Neuem“.
Zurück ins wirkliche Leben. Steffi hat auch am Abend zu tun. Der Rasen braucht Wasser, am Hang unter dem Gebäude gerade ausgesät. Noch flattert ein rot-weißes Band drum herum, Betreten für die Kinder verboten. Erst muss das Grün stark genug sein fürs Herumtoben. Peter schwingt sich auf sein Motorrad und winkt zum Abschied. Die Sonne geht unter und schickt ihre letzten Strahlen zum Wunder von Ruderting. Steffi beschäftigt drei Erzieherinnen, zu viert betreuen sie um die 20 Kinder. Weil einige noch unter drei sind, gilt ein besonderer Schlüssel. Da ist sie doch wieder, die deutsche Bürokratie. Ausgebucht war ihr Kindergarten sofort, jetzt heißt es durchhalten. 420.000 Euro hat der Bau gekostet, verrät Steffi. Auch die Bank hat mitgezogen und dem Wunder kein Hindernis in den Weg gestellt.
Der Bayerische Rundfunk hat dem Kindergarten einen Film gewidmet.
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