5d60d77abbd0a50d5f105e33b0b7f4e3
Buch-Tresen | 02.10.2025
Das Herz von allem
Christoph Nußbaumeder geht in seinem neuen Roman nach Amerika und über 200 Jahre zurück, um die großen Fragen der Gegenwart zu beantworten.
Text: Michael Meyen
 
 

Ich hätte dieses Buch nie gefunden, wenn ich den Autor nicht kennen würde. Ein denkwürdiger Abend kurz vor Weihnachten 2021, zumindest für mich. Ich habe gerade Quarantänewochen hinter mir und einen Zettel in der Tasche, der „genesen“ sagt. Also auf nach Berlin, in einen Keller voller Menschen. Reden, politisieren, trinken. Endlich wieder. Irgendwann nach Mitternacht sitze ich mit Christoph Nußbaumeder am Tisch, einem Mann in den 40ern, der zwar um die Ecke wohnt, sich aber erstaunlich gut auskennt in meiner neuen Heimat, im Bayerischen Wald. Er habe da gerade einen Roman geschrieben, heißt es von Gegenüber. Eine Familiengeschichte, die genau da spielt, wo ich jetzt wohne.

Bildbeschreibung Wahrscheinlich klingt das merkwürdig, aber dieses Buch war genau das, was ich damals brauchte. Man muss dazu die Gegend kennen, in die es mich verschlagen hatte, die Menschen, die dort lebten, und vielleicht noch mehr ihre Sprache. München ist dagegen Hochdeutsch. Anderthalb Autostunden in Richtung Nordost, und man ist in einer anderen Welt. Der Roman Die Unverhofften hat mir nicht nur diese Welt erschlossen, sondern München, Bayern, den Westen gleich mit, weil Christoph Nußbaumeder eine lange Linie zieht, die um 1900 in Bayerisch-Eisenstein beginnt, den Waldler von einst in die Moderne wachsen lässt und dabei nichts auslässt – auch die Kriege nicht und all die Verwerfungen, die sich sonst noch in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Nach dem Lesen wusste ich, wo ich bin. Und dass ich hier richtig bin.

Auch zum „neuen Nußbaumeder“ gehört ein Berliner Abend. Ich schaue zwar immer wieder in einen Buchladen hinein und dort auch in die Regale mit den Romanen, Das Herz von allem hätte ich dort aber nicht entdeckt, auch in Rostock nicht, wo ich schließlich in der Geschichtsabteilung fündig wurde, weil ich von Christoph gehört hatte, dass wieder etwas erscheint. Amerika. Eine Expedition in den wilden Westen. Lass dich überraschen.

Der große Gegenwartsroman spielt entweder in der Vergangenheit oder in Settings, die die Wirklichkeit ein wenig weiterdrehen und ihr Ebenen hinzufügen, die an Science Fiction erinnern oder gleich in Dystopien führen. Anders lässt sich offenbar noch nicht erzählen, was wir gerade erleben. Klima und Migration, Corona, Krieg und Spaltung. KAI von Raymond Unger, hier kann ich mich selbst zitieren, „übersetzt all das in ein Märchen, das realer nicht sein könnte und mit einem Ende daherkommt, das die Kämpfe seit den frühen 2010er Jahren mit Sinn auflädt und aus Verlierern Sieger macht“. Im Eschenhaus von Jörg Bernig machen sich die britischen Inseln ganz wörtlich auf den Weg nach Nordwesten. Auch in Materialermüdung von Dietrich Brüggemann passiert schier Unglaubliches. Und Christoph Nußbaumeder, geboren in Eggenfelden, lässt einen Pfarrer aus Irlbach an der Donau, nur eine gute Autostunde entfernt, 40 Tage über den Atlantik schippern und im Indianerland nach dem Incognitum suchen, einem Fabelwesen, das an ein Mammut erinnert und Unsterblichkeit verspricht. Das weiß der Pfarrer allerdings noch nicht, als er Anfang 1796 aufbricht und uns mitnimmt auf die Reise in Das Herz von allem.

Da sein Bericht auch von dem lebt, was unterwegs passiert, will ich hier nicht allzu viel verraten. Der Pfarrer, das ist wichtig, hatte mit fünf Jahre eine erste Transzendenzerfahrung, kennt Kant (damals ganz frisch), den Katholizismus und die Illuminaten. Freiheit: Dieser Wunsch treibt ihn nach Amerika und uns als Leser in eine Zeit, in der all das gerade entsteht oder diskutiert wird, was uns heute umtreibt. Demokratie. Papiergeld. Kapitalismus. Der „nationale Mythos“, der US-Bürger glauben lässt, von Gott auserwählt zu sein und allen anderen überlegen. Der Pfarrer schreibt aus einem Abstand von 40 Jahren und weiß deshalb, wie es weitergehen wird, er kann diese Zukunft (unser Jetzt) aber abgleichen mit dem, was ihm widerfahren ist und was er von den Indianern und über sie gelernt hat.

Darum geht es in diesem Buch: Wer sind wir und wie wollen wir leben? Wie sorgen wir dafür, dass tatsächlich alle mitreden können, wenn sie betroffen sind, und nicht das zerstören, was sie Tag für Tag benötigen? Christoph Nußbaumeder und sein Sprecher, der Pfarrer aus Irlbach, sind weit davon entfernt, eine untergegangene Kultur zu verklären, aber sie dringen zu den Wurzeln der Vernichtung vor und skizzieren zugleich einen Gegenentwurf, der keine Angst vor dem Tod kennt und Glück verspricht. Alles wahrnehmen, was uns umgibt. Sich Zeit nehmen und den Augenblick genießen. Teilen. Ich belasse es hier bei Schlagworten, weil ein Roman kein Sachbuch ist und sich deshalb gegen solche Listen sperrt. Wer ohnehin genug hat von der Analyse und eine Geschichte sucht, die ihn hineinsaugt und am Ende weiterbringt, der mache sich auf und gehe mit dem Pfarrer suchen nach dem Herz von allem.

Bildbeschreibung Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem. Roman. Berlin: Rowohlt 2025. 448 Seiten, 25 Euro.

Buch-Tresen

Kolumnen

Berichte, Interviews, Analysen

Michael Meyen: Videos

Freie Akademie für Medien & Journalismus

Unterstützen

Bildquellen: Museum in Milwaukee, Wisconsin. Foto: Michael Barera, CC BY-SA 4.0