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Rezension | 13.11.2024
Die Macht der Ideen
Hauke Ritz schreibt die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu und bietet Europa einen Ausweg aus der Transatlantikfalle, der über Russland führt.
Text: Michael Meyen
 
 

Dieses Buch sei ihm zu kompliziert, schrieb mir ein Leser, der eher auf der praktischen Seite des Lebens zuhause ist und vermutlich gerade deshalb regelmäßig wunderbare Literaturtipps hat. Zu verkopft, dieser Hauke Ritz, so würde ich seine Zuschrift zusammenfassen. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ich bin zwar mit Karl Marx aufgewachsen (Das Sein bestimmt das Bewusstsein), habe aber längst akzeptiert, dass auch Erzählungen zu einer materiellen Gewalt werden können – vor allem dann, wenn sie Zeit bekommen und sich über Schulen, Universitäten und Populärkultur hineinfräsen können in die kollektive Mentalität. Wir glauben dann, in ganz natürlichen Bahnen zu denken, gottgegeben oder sonst schon immer da, und übersehen den Marionettenspieler, der das Skript geschrieben hat und uns so alle lenkt.

Hauke Ritz baut Brücken zwischen diesen beiden Welten. Er sieht die Wirklichkeit, zu der die Geografie gehört, der Reichtum im Boden (und überhaupt) oder die Geschichte mit ihren ganz realen Folgen, und schafft es zugleich, sich von der Vorstellung zu lösen, dass der Mensch in all seinem Streben und Irren nicht mehr sei als ein Produkt der Umstände. Hauke Ritz dreht den Spieß um: Die Geschichte bewegt nicht uns, sondern wir bewegen sie. Was passiert, das passiert auch und vielleicht sogar in erster Linie, weil wir ganz bestimmte Vorstellungen von der Vergangenheit und unserem Platz in dieser Welt verinnerlicht haben. Von diesem Axiom ist es nur ein klitzekleiner Schritt zur Machtpolitik: Wenn es stimmt, dass das historische Bewusstsein mindestens genauso wichtig ist wie Atomsprengköpfe, Soldaten oder Gasfelder, dann können sich die Geheimdienste nicht auf Überwachung und Kontrolle beschränken. Dann müssen sie in die Ideenproduktion eingreifen. Und wir? Wir müssen die Geistesgeschichte neu schreiben, Politik anders sehen und zuallererst begreifen, dass der Mensch das Sein verändern kann, wenn er denn versteht, wer und was seinen Blick bisher gelenkt hat.

Bildbeschreibung

Hauke Ritz denkt in langen Linien und ist trotzdem am Puls der Gegenwart. Warum hasst der Westen Russland so sehr: Kleiner geht es im ersten Satz nicht. Ritz nimmt sich vor, das „Wesen dieser Gegnerschaft“ zu verstehen (S. 10) und dabei nicht einfach nur das nachzubeten, was selbst das Publikum der Tagesschau kennen dürfte. Die Landmasse im Zentrum Eurasiens, Rohstoffe und Nuklearwaffen ohne Ende, die Diplomatie-Tradition und vielleicht sogar die Schuld, die die Sowjetunion allein deshalb vererben musste, weil sie dem westlichen Imperialismus „tatsächlich Grenzen gesetzt“ hat (durch die „Utopie der Gerechtigkeit“, durch die Vergesellschaftung von Eigentum, durch den Eindruck auf die Dritte Welt nach 1945): All das reicht Hauke Ritz nicht. Er sagt: Gekämpft wird (in der Ukraine und darüber hinaus) um etwas, was man weder sehen noch anfassen kann und was den meisten Menschen abends auf dem Sofa wahrscheinlich egal ist. Es geht um die Deutung der europäischen Kultur. Die USA, sagt Hauke Ritz, fürchten das intellektuelle Potenzial Russlands mehr als all das, was in den Leitmedien tagein, tagaus diskutiert wird.

Ich lasse das erst einmal so stehen und nähere mich biografisch einem Denker, der die üblichen Pfade früh verlassen hat und deshalb Neuland betreten kann. Hauke Ritz, Jahrgang 1975, ist ein Kind der alten deutschen Universität. Er hat an der FU Berlin studiert, als man dort noch Professoren treffen konnte, denen Eigenständigkeit wichtiger war als Leistungspunkte, Deadlines und politische Korrektheit. Seine Dissertation wurzelt in diesem ganz anderen akademischen Milieu. Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Ein dickes Buch, das in zwei Auflagen erschienen ist, 2013 und 2015, ein Buch, in dem es um Geschichtsphilosophie geht und um die Frage, welchen Reim sich die Deutschen vom Ersten Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer auf den Siegeszug von Wissenschaft und Technik gemacht haben. Das klingt sehr akademisch, wird aber schnell politisch, wenn man die Aufsätze liest, die Hauke Ritz ab den späten Nullerjahren auf diesem Fundament aufbaut. Es geht dort um den tiefen Staat und den neuen kalten Krieg, um Geopolitik und Informationskriege und dabei immer wieder auch um die geistige Krise der westlichen Welt und um den fehlenden Realitätssinn deutscher Außenpolitik. Im Februar 2022 war Hauke Ritz gerade in Moskau, mit einem DAAD-Stipendium. Seine Frau ist Chinesin. Das heißt auch: Er hat mehr gesehen, als einem in den Kongresshotels der US-dominierten Forschergemeinschaften je geboten werden kann. Und er muss weder um Zitationen buhlen noch um irgendwelche Fördertöpfe und damit auch nicht um das Wohlwollen von Kollegen. Ein Lehrstuhl oder eine Dozentenstelle, hat er mir im Frühsommer 2021 auf Usedom erzählt, wo wir uns das erste Mal gesehen haben, so eine ganz normale Universitätskarriere sei für ihn nicht in Frage gekommen. Der Publikationsdruck, die Denkschablonen. Lieber ökonomisch unsicher, aber dafür geistig frei.

Ich habe mir diesen Satz gemerkt, weil er einen Beamten wie mich zwingt, seinen Lebensentwurf auf den Prüfstand zu stellen. Bin ich beim Lesen, Forschen, Schreiben so unabhängig, wie ich mir das stets einzureden versuche? Wo sind die Grenzen, die eine Universität und all die Zwänge setzen, die mit dem Kampf um Reputation verbunden sind? Und was ist mit dem Lockmittel Pension, das jeder verspielt, der das Schiff vor der Zeit verlassen will? Hauke Ritz, das zeigt das Buch, das gerade im Promedia-Verlag von Hannes Hofbauer in Wien erschienen ist, hat alles richtig gemacht. Dieses Buch ist ein großer Wurf mit ein paar winzigen Schönheitsflecken (mit Tippfehlern zum Beispiel), die ein strenger Lektor bei der zweiten Auflage leicht beheben kann.

Und damit zurück zu einem Ansatz, der die geistige Dimension von Herrschen und Beherrschtwerden ins Scheinwerferlicht holt und nach der „Macht des Konzepts“ fragt (S. 82). Diese Macht, sagt Hauke Ritz, hat den kalten Krieg entschieden. Nicht die Ökonomie, nicht das Wohlstandsgefälle, nicht das Wettrüsten. Ein Riesenreich wie die Sowjetunion, kaum verschuldet, autark durch Rohstoffe und in der Lage, jeden Feind abzuschrecken, habe weder ihre Satellitenstaaten aufgeben müssen noch sich selbst – wenn da nicht der Sog gewesen wäre, der von der Rockmusik ausging und von Hollywood, von bunten Schaufenstern und von einem Märchen, das das andere Lager als Hort von Mitbestimmung, Pressefreiheit und ganz privatem Glück gepriesen hat. Als selbst der erste Mann im Kreml all das für bare Münze nahm und Glasnost ausrief (das, was der Westen für seinen Journalismus bis heute behauptet, aber schon damals nicht einlösen konnte und wollte), sei es um den Gegenentwurf geschehen gewesen. Die Berliner Mauer habe der Psychologie nicht standhalten können.

Fast noch wichtiger: All das war kein Zufall, sondern Resultat strategischer und vor allem geheimdienstlicher Arbeit. Ich kann das hier nur andeuten und lediglich den Kongress für kulturelle Freiheit nennen, über den die CIA in den 1950ern und 1960ern Schriftsteller und Journalisten finanzierte, Musiker und Maler, Zeitschriften, Galerien, Filme – und damit Personal, Denkmuster, Symbole. Die „neue“ Linke, „nicht-kommunistisch“, also nicht mehr an der System- und Eigentumsfrage interessiert, diese „neue“ Linke ist genauso ein Produkt von Ideenmanagement wie das positive US-Bild vieler Westeuropäer oder eine neue französische Philosophie um Michel Foucault, Claude Lévi-Strauss oder Bernard-Henri Lévy, die Marx und Hegel abwählte und stattdessen auf Nietzsche setzte und seinen Satz von der „Umwertung aller Werte“.

Natürlich kann man fragen: Was hat all das mit uns zu tun? Mit dem Krieg in der Ukraine, mit der Zukunft Europas? Warum soll ich mich mit Kämpfen in irgendwelchen Studierstübchen beschäftigen, die höchstens zwei Handvoll Gelehrte verstehen? Hauke Ritz sagt: Wer die Welt beherrschen will, muss „den Code der europäischen Kultur umschreiben“ (S. 231). Das alte Europa: Dazu gehören für ihn Gerechtigkeit und Utopie, Wahrheitssuche, der Glaube an die Schöpferkraft des Menschen und die geistige Regulierung politischer Macht – verwurzelt in der Topografie des Kontinents, die Konkurrenz erzwang, und vor allem im Christentum, weitergetragen in weltlichen Religionen wie dem Kommunismus und so attraktiv, dass Hauke Ritz von Universalismus sprechen kann, von der Fähigkeit dieser Kultur, ein Leitstern für die Welt zu sein. Dass davon nicht viel übriggeblieben ist, sieht jeder, der die Augen öffnet. Grenzen sprengen, Identitäten schleifen, Traditionen vergessen. In der Lesart von Hauke Ritz ist Europa Opfer einer „postmodernen Fehlinterpretation seiner eigenen Kultur“ (S. 237), importiert aus den USA und nur abzuwehren mit Hilfe von Russland, das zwar zu Europa gehöre, sich vom Westen des Kontinents aber unterscheide und deshalb eine Alternative entwickeln und vorschlagen könne. Stichworte sind hier die orthodoxe und „die sozialistische Prägung des Landes“ (S. 27) sowie eine Vergangenheit als Imperium, ohne die, so sieht das Hauke Ritz, neben diplomatischen Erfahrungen die „politischen Energien“ fehlen (S. 104), die nötig sind, um Souveränität auch da zu bewahren, wo die „Macht des Konzepts“ beginnt. China und der Iran ja, Indien und Lateinamerika nein.

Keine Angst, ich schreibe hier kein zweites Buch. Diese Appetithäppchen sollen Lust machen auf einen Autor, der Europa, den Westen und die USA anders sieht als zum Beispiel Emmanuel Todd, der einen ganz ähnlichen Titel auf sein Buch geschrieben hat und gerade in der Gegenöffentlichkeit gefeiert wird – sicher auch, weil hier jemand aus dem Establishment Sätze schreibt, die man in deutschen Leitmedien mit der Lupe suchen kann. „Durchforsten wir das Unterbewusstsein der NATO, so stellen wir fest, dass seine militärische, ideologische und psychologische Mentalität nicht mehr dazu da ist, um Westeuropa zu schützen, sondern um es zu kontrollieren“ (S. 168). Das kann man zitieren und Ausrufezeichen setzen. Aber dann? Wo dieser französische Anthropologe psychologisiert und uns nicht nur zum Gefangenen irgendwelcher Pathologien macht, von denen wir noch nie gehört haben, sondern Politik auch als unausweichliche Folge von Familienstrukturen, Soziodemografie und Religion beschreibt, fragt Hauke Ritz nach dem Klasseninteresse einer Oligarchie, die ganz genau weiß, was es bedeutet, reich zu sein und sich buchstäblich alles kaufen zu können (S. 232) – von Parlamenten über Universitäten, Blockbuster und Popstars bis zu den Redaktionen der Leitmedien.

Bildbeschreibung

Noch einmal anders formuliert: Bei Emmanuel Todd können weder wir viel machen noch irgendwelche Superreichen. In Todds Panorama geschieht alles so zwangsläufig, dass man sich fragt, warum das die Weltenlenker nicht gesehen und entsprechend reagiert haben, die gewählten genauso wie die nicht gewählten. Emmanuel Todd kennt keinen Menschen, der ausbricht aus dem Korsett der Geschichte. Ohne solche Menschen wären wir aber nicht da, wo wir sind. Hauke Ritz ist, wenn man so will, ein lebender Beweis. Er glaubt an uns, er glaubt an das Subjekt. Er glaubt auch daran, dass die Vergangenheit selbst da weiterlebt und Ansprüche an uns stellt, an die Gegenwart, wo alles versucht worden ist, diese Vergangenheit auszuradieren. Die Geschichte ist nicht tot und auch kein „unumkehrbarer Prozess“ (Todd, S. 134). Wir müssen nur lauschen und verstehen, was sie uns zu sagen hat.

Hauke Ritz hat, das muss ich unbedingt noch erwähnen, weil er anders als Emmanuel Tod nach Verantwortung und Verantwortlichen fragt, die deutschen Parteiprogramme aus den frühen 1990ern durchforstet, aus den Jahren nach dem „Epochenbruch von 1989“, und fast nur Innenpolitik gefunden. Seine Diagnose: Diese Gesellschaft hat die Zuständigkeit „für die Weltordnung an eine andere Macht abgetreten“ (S. 28) und nicht daran geglaubt, dass die Welt gestaltbar ist. Das Internet und damit Überwachung und Kontrolle – all das sei wie ein „Naturphänomen“ wahrgenommen worden, „ohne die gestaltende amerikanische Macht dahinter zu erkennen, geschweige denn öffentlich zu thematisieren“ (S. 31). Denkt man den Einfluss der Nachrichtenagenturen mit und der Medienkonzerne, der sich heute zum Beispiel in der Trusted News Initiative bündelt, sowie die Tatsache, dass „die meisten europäischen Politiker“ daran gewöhnt sind, „sich die Welt von der Tagespresse erklären zu lassen“ (S. 82), werden die Konturen einer „Missbrauchsbeziehung“ erkennbar, in der „die Fehltritte Amerikas“ ganz selbstverständlich entschuldigt oder ausgeblendet werden (S. 111).

Ähnlich wie Emmanuel Todd steigt Hauke Ritz in die Tiefenschichten des Nationalbewusstseins hinab und findet dort einen „Gesellschaftsvertrag“, der die Deutschen und damit die Europäer freispricht von jeder historischen Schuld, „sofern sie sich von den USA regieren lassen“ (S. 258) – von einem Land, das der Glaube trägt, von Gott auserwählt zu sein, und das zugleich einer Demokratiereligion fernab der „Leitidee“ huldigt, die uns die alten Griechen und die Aufklärung geschenkt haben. Freiheit made in USA, sagt nicht nur Hauke Ritz, „ist vor allem die Freiheit der Wohlhabenden und gut Vernetzten“ und verlangt, an den „nationalen Mythos“ zu glauben, wenn man denn dazugehören will. Dieser „amerikanische Kollektivismus“ sei „viel grundlegender als die eher traditionellen Zwänge in den europäischen Gesellschaften“ (S. 140) und erkläre auch die Heftigkeit, mit der die USA auf die Herausforderung durch die Sowjetunion reagiert haben – auf ein „Gegenmodell“, das versprach, Eigentum und Oligarchie abzuschaffen (S. 141). Der Weg in eine bessere Zukunft ist damit vorgezeichnet. Zurück zur europäischen Kultur und damit weg aus den Fängen eines Imperiums, das sich auf den Öldollar stützt, auf sein Militär und auf „zerrissene Jeans“ (S. 258). Zurück zur Konkurrenz der Modelle, weil jeder Vergleich „sofort den synthetischen Charakter der postmodernen Werte sichtbar“ macht (S. 234). Zurück vor allem zum Frieden, auch und gerade mit Russland.

Mag sein, dass das „(zum gegenwärtigen Zeitpunkt) unmöglich“ ist (Emmanuel Todd, S. 326). Hauke Ritz bringt das nicht aus der Ruhe. Er hat Zeit, weil er weiß, dass „Kulturkreise“ neben Religion und Ethik „auch Weltordnungskonzepte“ besitzen. China baut eine „Internetmauer“, und die USA spielen mit der NATO-Osterweiterung das nach, was einst im wilden Westen funktioniert hat (S. 238). Europa, leitet er daraus ab, Europa wird früher oder später zu „einem Gleichgewichtszustand der Mächte“ zurückkehren und so in „die Rolle eines globalen Mediators“ schlüpfen (S. 240). Bis es soweit ist, können wir uns mit diesem wunderbaren Buch trösten.

Bildquellen: CSalem @Pixabay, Promedia, Westend