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Dokumentation | 01.09.2024
Bremer Cancel-Chronik
„Hintergründe und Folgen der Coronakrise“ wollte ein Arzt Samstag auf einem Symposium diskutieren. Stadtgesellschaft und Gericht hatten etwas dagegen.
Text: Michael Meyen
 
 

Cancel Culture braucht die Leitmedien nicht mehr. Das neue Zensurregime ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und drängt alles an den Rand und darüber hinaus, was die Rechtfertigungslehre der Gegenwart auf den Prüfstand stellt. Kritiker dürfen sich noch austauschen – so lange sie öffentlich unsichtbar und unter sich bleiben. Ein Lehrstück aus Bremen, das ich hier dokumentieren kann, weil ich es live erlebt habe.

21. Mai

Mail von Jürgen Borchert, Betreff „Symposium Corona-Aufarbeitung“. Der Absender stellt sich als Arzt vor, 30 Jahre im Job und im September 2020 auffällig geworden durch ein Interview im Weser-Kurier. Das Ermittlungsverfahren der Ärztekammer, schreibt Borchert, sei zu seinen Gunsten ausgegangen. Artikel 5 Grundgesetz. Weiter im Text: „Seit Dezember 2023 bin ich Delegierter in dieser Ärztekammer (Liste Hippokratischer Eid) und bemühe mich um Aufklärung der Kollegenschaft.“ Nun möchte er auch die Bremer Öffentlichkeit erreichen und fragt, ob er auf mich zählen kann. Einer von fünf, sechs Rednern am 7. September. Ich zögere. Bremen ist weit weg von der Oberpfalz und die Urlaubsplanung noch nicht fertig.

21. Mai

Borchert antwortet schnell auf meine Zweifel. Die Medien, Herr Meyen. Er selbst habe die „Macht der Medien“ nach besagtem Interview „am eigenen Leib“ erlebt. Man habe ihn „durch gezielt ausgewählte Leserbriefe geframt und diffamiert“. Er werde Spenden sammeln und die Kostenfrage regeln. Das Geld ist mir egal. Borchert erwähnt aber, dass er meine Auftritte verfolgt hat und an einen Mehrwert glaubt. Also werde ich schwach.

4. Juni

Das Programm steht weitgehend. Beate Pfeil wird zum Recht sprechen und Werner Bergholz zu Nebenwirkungsstatistiken. Dazu Sonja Reitz und Anne Ohlert zu Medizin und Kindeswohl. Es gibt noch ein paar Fragezeichen, aber das ist drei Monate vorher normal. Jürgen Borchert bittet um ein Pressefoto und um ein paar Stichworte zum Inhalt.

5. Juni

Der Termin soll eine Woche nach vorn geschoben werden. In der Christengemeinschaft gebe es lediglich 199 Plätze. Ein deutlich größerer Raum sei nur am 31. August frei. Heute weiß ich: Hier beginnt die Cancel-Chronik.

7. Juni

Das Konzept ist fertig, schreibt Jürgen Borchert. In der Rednerliste steht jetzt auch Sabine Stebel, die etwas zu Spikeproteinen sagen wird. Ort: Kongresszentrum Bremen.

13. Juni

Ein neuer Ort. „Die beste Lösung von allen“, schreibt Jürgen Borchert. „Der alte ehrwürdige, denkmalgeschützte Sendesaal Bremens, bezahlbar, mit allen erforderlichen elektronischen Einrichtungen, 250 Plätze, auf 300 bei Bedarf erweiterbar, Akustik und Atmosphäre bestens.“ Nun denn. Ich hätte gleich nachschauen sollen auf der Webseite. Im Kuratorium des Vereins der Freunde dieses alten Sendesaals drängelt sich Kulturprominenz. Alles riecht nach Politik und Steuergeld und damit nach Problemen.

30. Juli

„Schlechte Nachrichten vom Sendesaal“, schreibt Jürgen Borchert. Er habe gefragt, ob es okay sei, wenn Auf1 von der Veranstaltung berichte. Antwort: ein „rechtsextremes Medium“. Die Saalbetreiber fühlen sich hintergangen und wissen nun, dass es sich um eine politische Veranstaltung handelt und nicht um eine medizinische Fortbildung, wie sie offenbar glauben wollten. Weder der Verzicht auf die Übertragung scheint die Wogen zu glätten noch der Hinweis, dass der Flyer Mitte Juni sofort vorgelegt worden sei. Jürgen Borchert rechnet mit einer Kündigung und sucht parallel juristische Beratung sowie einen anderen Saal.

31. Juli

Entwarnung. Der Sendesaal akzeptiert den Verzicht auf Auf1 und steht zum Vertrag.

16. August

Der Verein Freunde des Sendesaals e.V. meldet sich – über einen Anwalt. Dem Verein sei zugetragen worden, dass Dr. Sabine Stebel „die so genannte Reichsbürgerbewegung“ unterstütze. Es sei dem Verein nicht zumutbar, solchen Menschen „ein Forum“ zu bieten. Außerdem handele es sich offenkundig nicht um eine „ärztliche Fortbildung“, sondern um eine „reine Informationsveranstaltung für jedermann“. Der Verein behalte sich deshalb vor, von dem Vertrag zurückzutreten. Ich verzichte hier darauf, etwas zu der „Reichsbürgerin“ zu sagen. Es hätte auch mich treffen können. Extremist, Verfassungsfeind, wer weiß. Zufällig hat sich der Denunziant Frau Stebel ausgesucht. Vielleicht auch nicht zufällig. Spikeproteine sind gefährlicher als Medien. Sabine Stebel schreibt dem Orgateam noch am gleichen Tag. Sie sehe überhaupt nicht ein, sich gegen unhaltbaren Schwachsinn zu verteidigen. Recht hat sie. Jeder kann das im Netz recherchieren.

20. August

Jürgen Borchert antwortet dem Anwalt.

23. August

Die Techniker im Sendesaal machen einen Termin für die Absprachen. Jürgen Borchert hat sich mit jemandem von den Anwälten für Aufklärung beraten.

26. August

Der Vertrag wird gekündigt.

27. August

Die Ärztekammer Bremen lehnt es ab, das Symposium als Fortbildungsveranstaltung anzuerkennen. Das Programm werde durch „Vorträge zu allgemein-politischen Themen bestimmt“ (Reitz, Pfeil, Ohlert, Meyen). Wir lernen: Der Blick über den Tellerrand dient nicht „dem Erhalt und der kontinuierlichen Weiterentwicklung der beruflichen Kompetenz“ von Ärzten. Wir lernen auch: Die Cancel-Allianz steht. Jürgen Borchert hat seinen Antrag am 19. August gestellt. Offenbar will er dem Anwalt der Sendesaal-Freunde sein stärkstes Argument nehmen. Im kleinen Bremen dürfte sich das alles längst herumgesprochen haben.

28. August

Es gibt einen „sicheren Plan B“. Ein Hotel in unmittelbarer Nähe. Parallel läuft ein Antrag auf einstweilige Verfügung gegen die Vertragskündigung.

29. August

Das Amtsgericht Bremen weist den Antrag von Jürgen Borchert ab. Kosten: 2000 Euro. Im Mietvertrag steht, dass „unvollständige und täuschende Angaben“ des Veranstalters zur Kündigung berechtigen. Der Richter hat den Flyer gestern in einem Lebensmittelladen gesehen (kein Scherz) und weiß nun, dass auch jeder Nichtarzt kommen kann. Außerdem verweist er auf Sicherheitsbedenken wegen möglicher Demos und glaubt ansonsten den Leuten vom Sendesaal. Ob die Sache mit den Reichsbürgern stimmt, ist ihm offenbar egal. Mein Name steht auch auf den sechs Seiten, es wird aber nicht konkret.

Plan B ist inzwischen auch geplatzt. Das Hotel meldet einen Wasserrohrbruch. Wie schön, dass die Leitungen mitdenken. Es gibt aber einen Plan C: das Bürgerhaus Berliner Freiheit 10. Es finden sich schnell Leute, die vor dem Sendesaal stehen und das Publikum umleiten wollen. Alles eine halbe Stunde später als geplant, aber was soll’s.

30. August

Die Freiwilligen können daheimbleiben. Der Chef vom Bürgersaal sagt: Schon der Titel reiche ihm zur Absage. „Aufarbeitung der Corona-Pandemie“ hatte Jürgen Borchert auf den Zettel geschrieben. Soweit sind wir noch nicht, auch jenseits von Bremen nicht. Borchert bietet an, die Vorträge vor laufender Kamera zu halten, im kleinen Kreis. Videos für die Eingeweihten. Davon haben wir schon genug. Ich spreche heute im Süden von Schleswig-Holstein, am Rande eines Einkaufszentrums. Der Saal ist nicht schön, aber der Betreiber macht keinen Stress. Den Umweg nach Bremen kann ich bei der Rückfahrt nun sparen.

Bildquellen: Nicole Pankalla @Pixabay