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Meyen am Tresen | 01.03.2025
Baumeister der DDR
Florentine Anders hat ein Buch über Hermann Henselmann und seine Familie geschrieben. Der berühmte Architekt war ihr Opa.
Text: Michael Meyen
 
 

Ich war neugierig. Florentine Anders hat mit mir studiert. Wobei: Ganz so nah, wie das jetzt klingt, waren wir nicht. 120 Studenten, sieben Seminargruppen: Als es im Herbst 1988 für uns losging an der Sektion Journalistik in Leipzig, hing es auch vom Zufall ab, mit wem man mehr zu tun hatte und mit wem weniger. Manche Gruppen hatten sich im Volontariat gebildet und andere bei der Auswahlwoche in Bad Saarow am Scharmützelsee. Lange hielt das alles ohnehin nicht. Nach einem Jahr kamen die Dinge ins Rutschen und sprengten oft das, was bis dahin gewachsen war.

Ich weiß nicht einmal, ob Florentine bis zum Diplom durchgehalten hat. Gar nicht wenige von uns haben die Ungewissheit nicht ausgehalten und sind sofort irgendwo in Lohn und Brot, manchmal auch jenseits des Journalismus. Wer eine Nase hatte für den Wind, der sich für den Propaganda-Nachwuchs schnell drehte von der Euphorie des Anfangs in Richtung Pranger, der konnte schon auf die Idee kommen, lieber Autos zu verkaufen oder Versicherungen. Außerdem lockte der Westen, auch mit Journalistenschulen. Andreas Rook, heute ein MDR-Gesicht, der damals mit seiner Freundin nach Moskau ging, war die Ausnahme. Die Regel: München, Wales, Paris. Ich hatte gehört, dass Florentine Anders nach Frankreich gegangen war, aber dann reißt der Faden ab. Dass sie im Zeit-Kosmos gelandet ist, war nicht bis zu mir durchgedrungen.

Dieses Buch dann schon. Wenn etwas über die DDR erscheint, bekomme ich das mit. Ich kaufe längst nicht mehr alles. Wenn immer wieder das gleiche serviert wird, freut man sich selbst über einen Film wie Kundschafter des Friedens 2. Florentine Anders und ihr Opa Hermann Henselmann: Das klang gut. Das klang nach Brigitte Reimann und „Franziska Linkerhand“. Nach Defa. „Unser kurzes Leben“ von Lothar Warneke und „Insel der Schwäne“ von Herrmann Zschoche, zwei Filme, die Anfang der 1980er ins Kino kamen und die Tristesse des Wohnungsbaus genauso festgehalten haben wie einen Alltag, der heute so weit weg ist wie die Marskolonie von Elon Musk.

Ich will nicht sagen, dass ich enttäuscht worden bin. Die Mitstudentin von einst hat das gut gemacht. Sie hat sich hineingegraben in die Papiere und viele der Orte besucht, die wichtig gewesen sind für die Henselmanns und ihre acht Kinder. Schreiben kann sie ohnehin. Das haben wir in Leipzig gelernt oder schon vorher in der Redaktion. Entstanden ist so eine Familienbiografie, in der sich die Autorin zurücknimmt. Drei, vier Einsprengsel zur Recherche. Mit der Mutter im Stasiarchiv, wo es nicht nur eine Opferakte gibt, sondern auch eine Täterakte – zur Überraschung der Tochter. Ein paar Sätze zu den regelmäßigen Besuchen beim berühmten Opa, der ihr alle 14 Tage ein Buch mitgibt, über das dann diskutiert werden soll. Sonst ist da vor allem Distanz. Abstand halten. Keine Emotionen zeigen. Sagen, wie es gewesen sein könnte. Journalismus und Geschichtsschreibung – aber kein Roman.

Um noch einen Moment loben zu können: Florentine Anders geht chronologisch vor, von 1931 bis 1995, fast wie in einem Fotoalbum. Da die DDR klein war und die Henselmanns zu ihrem Adel gehörten, gibt es literarische Bilder von vielen Prominenten. Mit Lotte Ulbricht auf der Völkerfreundschaft, Manfred Krug als Fast-Nachbar, ein Unterschlupf bei Alex Wedding, die eigentlich Grete Weiskopf hieß und Pflichtlektüre für jedes Kind war. Es passiert sogar jede Menge Ungeheuerliches, auch jenseits der Seitensprünge des Opas und von Robert Havemann, der mit Omas Schwester verheiratet war. Architektur, Opposition, Ost-West-Spionage, Berlin im Wandel der Zeit: Das ist auch deshalb spannend, weil Florentine Anders darauf verzichtet, dem Diktaturgedächtnis Futter zu geben, und einfach die Tatsachen sprechen lässt, ohne die zu verurteilen, die an das Projekt DDR geglaubt oder von ihm profitiert haben und beides längst nicht immer auseinanderhalten konnten.

Vielleicht hätte der Verlag auf das Wort „Roman“ verzichten sollen. Ein Roman braucht einen Konflikt – einen Dreh- und Angelpunkt, der nicht nur solche Figuren aus den Tiefen der Vergangenheit trägt, sondern im Idealfall universell ist und so auch die Gegenwart erreicht. Der Mann zum Beispiel, der älter wird und prominent und daraus etwas macht bei jüngeren Frauen, ohne seine erste Liebe aufgeben zu wollen. Die Frau, die all das sieht und es trotzdem nicht zum Bruch kommen lässt – oder doch, wie Florentines Mutter offenbar dann gleich zweimal. Oder die Ideologie, die sich hineinfrisst in die Profession und etwas verlangt, wenn man sich im Licht der Macht sonnen möchte. Ich denke dabei natürlich an Eugen Ruge, dem ein runder Geburtstag gereicht hat, um nicht nur eine kommunistische Familie auseinanderbrechen zu lassen, sondern zugleich die Geschichte vom Aufstieg und Ende einer Utopie zu erzählen. Vielleicht ist dieser Vergleich aber auch vermessen. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“: Das war einmal. Jetzt lesen wir eben „Die Allee“.

Bildbeschreibung

Florentine Anders: Die Allee. Roman. Verlag Galiani Berlin 2025, 352 Seiten, 24 Euro.

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Bildquellen: Markus Spiske @Pixabay