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Meyen am Tresen | 07.12.2024
Bai Ganju und eine Zeitreise
Was hat einer der umstrittensten Helden der bulgarischen Literatur mit unserem Autor Rumen Milkow zu tun? Geschichten über Geschichten.
Text: Antje Meyen
 
 

Vor Kurzem lag es in der Post. Ein unscheinbares Büchlein: Baj Ganju, der Rosenölhändler. Absender unser Welt-Tresen-Kolumnist Rumen Milkow. Rumen steht auch als Herausgeber auf dem Titel. Eine kurze Widmung im Buch, die nichts erklärt.

Ich kenne weder den Autor Aleko Konstantinow noch den Rosenölhändler Bai Ganju. Aber Rosenöl – allein dieses Wort weckt Erinnerungen an Kindertage. An Urlaubsreisen auf der Rückbank unseres Skodas, noch ganz ohne Gurt und Klimaanlage in drei Tagen durch die Bruderländer Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien bis an den bulgarischen Schwarzmeerstrand. In den Souvenirbuden duftete es nach Rosenöl, das in Holzfläschchen aller Formen und Arten zu haben war. Innen immer ein kleines Glasröhrchen mit Minikorken, darin das Parfüm.

Bildbeschreibung

Wir müssen meiner Oma mal eins als Reiseandenken mitgebracht haben, zumindest riecht auch sie in meinen Gedanken immer etwas streng nach Rosen. Rosenöl verbinde ich seitdem vor allem mit alten Frauen. Nun also ein Buch über einen Rosenölhändler? Baj Ganju, verrät der Umschlagtext, ist die populärste und umstrittenste Figur der bulgarischen Literatur. Umstritten – das verspricht einiges. Außerdem: ein Satire-Klassiker der Weltliteratur, allein ins Deutsche vier Mal übersetzt. Also rein ins Lesevergnügen.

Die Geschichte spielt in den 1890ern. Baj Ganju, ein kauziger Bulgare mit gezwirbeltem Schnurrbart, oft übelriechend, mit schlechten Manieren und immer unterwegs mit einem schweren Quersack, in dem er seine Rosenölflaschen trägt, reist nach Europa. Was er in Prag, Wien, Dresden, in der Schweiz oder in Russland erlebt, lässt Aleko Konstantinow eine Runde von Freunden reihum erzählen. In keiner der kurzen Episoden macht Baj Ganju eine gute Figur. Er betrügt seine Mitreisenden, schlägt sich auf Kosten gutmütiger Menschen durch und weiß immer, wie er für sich das Beste herausholen kann.

Als erfahrener Reisender kehrt Baj Ganju schließlich zurück nach Bulgarien. Dort organisiert er Wahlen, das heißt, er sorgt mit durchschlagenden Methoden für das richtige Ergebnis. Er gründet einen Abstinenzlerverein, was in einem Saufgelage endet. Mit seinen Kumpanen diskutiert er dann, womit sich am besten Geld verdienen ließe:

Wisst ihr was? Mit einer Kneipe kommen wir zu nichts, und eine Bank kriegen wir auch nicht so hin, wie es sich gehört; dein russischer Kwass, Dotschoolu, ist schon ganz und gar zu dumm. Soll ich euch was sagen? ... Herrschaften, wir geben eine Zeitung heraus! ... Was ist denn schon groß dabei, eine Zeitung herauszugeben? Man bindet sich ein paar Scheuklappen um (das ist nicht einmal unbedingt nötig), und dann schimpft man drauf los nach rechts und nach links ... Wir holen uns den Advokaten Gunju, der versteht sich auf Leitartikel, und selbst verfassen wir Zuschriften, Entrefilets und Telegramme. Dazu braucht man schließlich keine ausgefallene Philosophie!

Die Freunde sind allerdings skeptisch. Vor allem die Frage, auf welcher Seite man denn stehen soll, Regierung oder Opposition, treibt sie um. Für Bai Ganju kein Problem:

„Ich glaube, wir halten es erst einmal mit der Regierung ... Später, wenn wir merken, dass sie nicht mehr ganz so fest im Sattel sitzen, geben wir ihnen einen Fußtritt, und mit den Neuen sind wir wieder an der Macht, was sagt ihr dazu?“ ... Man kam überein, sich nach den jeweiligen Umständen zu richten und natürlich nach dem materiellen Vorteil. Über Russland „da schreiben wir: Unsere Befreier, das brüderliche russische Volk, es lebe der Zar-Befreier“ ... Über Makedonien „schweigen wir uns am besten aus ... Über Österreich schreiben wir mal so, mal so, der Dreierbund – nein, das geht überhaupt nicht ... Und die jungen Leute, die führen wir an der Nase herum, was soll man sonst schon mit ihnen machen. Ein unruhiges Völkchen.

Aleko Konstantinow, geboren am 13. Januar 1863 in Swischtow an der Donau, war Übersetzer, Autor, Satiriker und politischer Aktivist. Bai Ganju ist sein Hauptwerk, das an Aktualität nichts verloren hat. Die Regeln, mit denen sein Held sich durchs Leben schlägt („Einen gesenkten Kopf schlägt der Säbel nicht ab.“), gelten heute genauso wie vor 130 Jahren. Aleko Konstantinow wird am 23. Mai 1897 ermordet. Ein Unglücksfall: Das Attentat gilt seinem Freund und politischen Mitstreiter Mihail Takev, der mit ihm in einer offenen Kutsche sitzt. Eine abprallende Kugel bricht Konstantinow eine Rippe, ein Knochenstück dringt ins Herz.

Höchste Zeit, Rumen zu fragen, wie er zu diesem Autor und zu Bai Ganju gekommen ist. Im Vorwort schreibt er, dass Norbert Randow, einer der drei Urheber der aktuellsten deutschen Übersetzung, ihm die Rechte daran überlassen hat. Die Geschichte dazu, schreibt mir Rumen, geht so: 2012 wandert Rumen mit einem Esel quer durch Bulgarien, auf dem „Kom-Emine“, dem längsten bulgarischen Wanderweg. Auf dem Grat des Balkangebirges vom Berg Kom an der serbischen Grenze zum Kap Emona am Schwarzen Meer. Die Tour ist Aleko Konstantinow gewidmet. Der Autor hatte einst von dieser Wanderung geträumt, wurde aber mit gerade einmal 34 Jahren erschossen, bevor er diesen Traum verwirklichen konnte. Aleko Konstantinow hat das Wandern in Bulgarien erfunden, den ersten und bis heute einzigen bulgarischen Wanderverein gegründet. Rumen mag den „ganz einzigartigen, satirisch-humorvollen Stil – im Gegensatz zu vielen anderen Bulgaren, die oft sehr schwermütig daherkommen“. Auf seiner Wanderung kommt Rumen auf die Idee, Bai Ganju neu herauszugeben. „Die Preise für das dünne, 1974 bei Reclam Leipzig erschienene Buch lagen damals zwischen 20 und 50 Euro. Der DDR-Preis war 1,50 Mark“, sagt Rumen. Eine Motivation: Jeder, der den Bai Ganju lesen will, soll ihn für einen normalen Preis bekommen.

Von der Idee erzählt Rumen seinem „Hochzeits- und Scheidungspapiere-Übersetzer“ Milen Radev in Berlin und dieser wiederum Norbert Randow, mit dem er befreundet war. Daraufhin will Norbert Randow den Verrückten kennenlernen, der mit einem Esel quer durch Bulgarien zieht. „Eine große Ehre für mich, weil ich viele Bücher kannte, die Norbert Randow aus dem Bulgarischen übersetzt hatte“, sagt Rumen. „Irgendwann saß ich mit Milen bei Norbert Randow am Wohnzimmertisch bei Kaffee und Kuchen.“ Norbert Randow unterstützt die Idee, den Bai Ganju neu herauszugeben, von Anfang an. Da er alleiniger Rechtinhaber war, ist die Rückgabe von Reclam reine Formsache. Den Bai Ganju wollte der Verlag selbst nicht mehr neu herausgeben. „Damit könne man kein Geschäft mehr machen“, sagt Rumen. „Nun hatte ich zwar die Rechte, aber immer noch keinen Verlag. Aber das ist eine andere Geschichte.“

Stattdessen will Rumen über das Leben von Norbert Randow reden – und ich fühle mich schon fast ein wenig an Aleko Konstantinow erinnert, der eine Geschichte in die nächste übergehen lässt. „Eigentlich hatte Norbert Randow eine Karriere an der Humboldt-Uni geplant. Aber im Zusammenhang mit dem Mauerbau hat ihn jemand verpfiffen, und er musste in den Knast. Irgendwas zwischen ein und zwei Jahre, wenn ich mich recht erinnere“, so Rumen. „Sein Vergehen war, dass er wusste, dass ein anderer rüber wollte, es aber nicht gemeldet hatte. Er sagte oft, dass er im Knast nur gute Leute kennengelernt und viel gelesen habe. Nach dem Gefängnis verfügte die Stasi, dass er keine Anstellung findet. Das erfuhr er aber erst später. Jedenfalls ist er so zum Übersetzen gekommen, weil er keine andere Arbeit bekam. Und seine Übersetzungen wurde er sicher los, da es eine Quotenregelung für Literatur aus den Bruderländern gab.“ Später wurde Norbert Randow rehabilitiert, bekam eine Gastprofessur an der Humboldt-Universität Berlin und erhielt das Bundesversdienstkreuz. „Mit dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog reiste er nach Bulgarien. Dort bekam er den höchsten Orden des Landes, den ‚Stara Planina‘ – das bulgarische Wort für Balkangebirge.“

2013 ist Norbert Randow verstorben. Das Erscheinen von Bai Ganju im Wieser Verlag Klagenfurt hat er nicht mehr erlebt. Ehren wir ihn, Aleko Konstantinow, Bai Ganju und Rumen Milkow, indem wir das Buch lesen. Passenderweise steht Weihnachten vor der Tür, ein bisschen Kost für Hirn und Herz kann da ganz sicher nicht schaden.

Bildbeschreibung

*Bai Ganju" kaufen im Wieser Verlag

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Bildquellen: Titel: Svilen Enev, Denkmal für Aleko Konstantinow auf dem Tscherni Wrach; Rosenöl: https://www.etsy.com/de/shop/VintageAvangardShop