In Titel und Untertitel erfährt man schon die axiomatische These des Autors: Eine andere als eine autoritäre, menschenfeindliche, zynisch-aggressive, ja totalitäre linke Bewegung hat es nie gegeben und kann es nicht geben. Jede linke Theorie und Praxis zielt bewußt auf die Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaftlichkeit, der Demokratie, der Bildung und des bereits erreichten zivilisatorischen Standards in allen Erdteilen.
Aus dem ursprünglichen Sozialismus eines Saint-Simons [sic!] sind im 19. Jh. der Marxismus/Kommunismus und danach, im 20. Jh. der Faschismus entstanden. (...) die Entwicklung vom „ollen Marx“ zur Woke-Bewegung läßt sich lückenlos nachweisen. Der Wokeismus ist nichts anderes als die aktuellste Metamorphose des Marxismus.
So antwortete Tom Sora dem klugen Kritiker seiner Thesen, Michael Mansion, auf seinem Blog. Weiter heißt es da:
Es gibt (…) gar keinen „klassischen historisch linken Anspruch auf eine herrschaftskritische Emanzipation der gesellschaftlichen Subjekte“, wie es Mansion (…) suggeriert.
Dieser sei offenbar immer noch ein „Fan der Frankfurter Schule und der sogenannt [sic!] kritischen Theorie“, wenn er meine, „dass sich solche destruktiven Agitatoren wie Marcuse für echte Freiheit eingesetzt haben“. Faschismus und Nationalsozialismus seien „fundamental linke Doktrinen“. „Sozialismus ist per Definition autoritär.“ Auch das „woke, zeitgeistige Milieu“ in der Demokratischen Partei der USA sei nicht etwa nur „pseudo-links, sondern richtig linksextrem“.
Als Beweismaterial zieht Sora die (Neo)Avantgardekunst ab 1950 und hier wiederum den Künstler und Komponisten John Cage (1912 bis 1992) heran. Akribisch dreht er jeden Stein in der politischen und Kulturgeschichte um und findet immer wieder auf’s Neue Beweise für seine Überzeugung, die der 1956 in Bukarest geborene (und seit Langem in Deutschland lebende) Komponist und Musikwissenschaftler im Laufe seines Lebens gewonnen hat und die er den Lesern als der Weisheit letzten Schluß präsentiert.
Fast hätte ich geschrieben, der lebensweise Rat ‚Schuster, bleib bei deinem Leisten!‘ habe hier einen repräsentativen Anwendungsfall gefunden. Aber da in unseren Zeiten jeder alles schreiben kann und es meist auch veröffentlicht wird – und damit meine ich keine „Fake-News“, ist auch Tom Sora die Berechtigung für eine solche Monografie nicht abzusprechen. Wenn er aber behauptet, die Kunstavantgarde sei Vortrupp und Wegbahner der heutigen wokeistischen Kultur an der Macht gewesen, überkommt die Rezensentin ein heftiges Bedürfnis, bestimmte geschichtsphilosophische Einsichten aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhundert in Erinnerung zu rufen.
Zum einen sind Elemente einer Kultur nur in ihrem jeweils zeitgenössischen Zusammenhang erklär- und verstehbar. Es ist also schlichtweg unhistorisch, sprachliche Bekundungen und Artefakte aus unserem zeitgeistigen Rahmen heraus zu bewerten und über sie zu urteilen. Ich komme darauf zurück.
Sora hat den Mut – oder die Chuzpe –, ein widerspruchsfreies und vollständiges Bild des allgemeinen „Links“-Seins zum Maßstab seiner Darlegungen zu machen. Linke sind neidisch, zynisch, kollektivistisch-elitär, diktatorisch und verachtend, gewalttätig, ohne moralisches und Rechtsbewußtsein, hedonistisch-egoistisch, anmaßend, ideologisch indoktrinierend … – und zwar (fast) jeder einzelne und auf immer und ewig.
Das kann man machen: eine eigene Definition eines viel analysierten Phänomens vorlegen und es 400 Seiten lang empirisch durchdeklinieren. Entscheidend für die Anwendung einer Methode ist immer ihr Erkenntniswert in Bezug auf einen definierten Gegenstand. In diesem Falle sollte wohl die Herkunft der woken Weltanschauung und Praxis erforscht und dargelegt werden. Nein, falsch: es war eben keine ergebnisoffene Forschung, was der Autor da betrieben hat. Das Resultat stand bereits vor der Recherche fest und wurde nur noch „bebildert“. Was die neue Woke-Ideologie ihrem Wesen nach ist, bleibt unbegriffen.
Denn zum anderen liegt diesem Linken-Bild ein kruder Antikommunismus aus der Rubrik „Priesterbetrug“ zugrunde: Der Religions- oder Ideologieverkünder glaube selbst den ganzen Schwindel nicht, sondern wolle die lauschende und sinnbedürftige Menge nur manipulieren, um seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Das einzige Zugeständnis, das Sora macht, ist einzuräumen, daß manche Avantgardisten selbst Opfer von Manipulation geworden sein könnten, also „nützliche Idioten“ waren. Das Gros aber bestand aus üblen Kerlen.
Sora arbeitet mit Pauschalisierungen und Etikettierungen, anstatt ein differenziertes Bild einer früheren Epoche und von deren Folgen zu liefern. Er vergibt sich damit die Chance, ein genuines Verständnis heutiger Prozeßabläufe im okzidentalen Kulturbereich bzw. -betrieb zu erarbeiten. Nicht alles, was ähnlich oder gleich aussieht, ist es auch. Konkret: Der Autor zählt (angebliche) Prinzipien bzw. Ziele der linken Theoretiker, Aktivisten und Avantgardisten, insonderheit John Cages, auf wie
Das sind recht disparate Punkte. Manche treffen auf von Sora so bezeichneten Linke zu, andere nicht. Der sowjetische Stalinismus beispielsweise unterschied sich nicht unwesentlich vom Sozialismus der 1970er Jahre in der DDR. Und – auch dies nur als Beispiel – eine „Enthemmung der Sexualität“ kann man den Kommunisten an der Macht nun wirklich nicht zur Last legen. Aber um Differenzierung ist es Sora ja nicht zu tun. Er hat nur einen großen Mülleimer vor sich stehen, und da stopft er alles hinein. Doch je höher eine Abstraktion auf der Reflexionsleiter klettert, desto geringer ist ihr Erklärungswert und ihr erkenntnisfördernder Gehalt.
Selbstverständlich kann man den Nationalsozialismus und den sowjetisch geprägten Sozialismus als Totalitarismen bezeichnen. Beide als linke Regimes zu apostrophieren, stammt nun aber wirklich aus der Nacht, in der alle Katzen grau sind, wie Hegel es lakonisch formulierte, um eine sinnlose Abstraktion zu veranschaulichen. Die Kommunisten an der Macht legitimierten ihre Diktatur mit linken Theorien, die Nazis mit rechten. Zu Feinden erklärt wurden bei ersteren alle Bürgerlichen und Reichen, bei letzteren Juden, Kommunisten und bestimmte Völker.
Auch der linken Jugendbewegung in den USA, in Frankreich und Deutschland wird Sora nicht gerecht. Zu kurz kommt bei ihm die Politisierung der Jugend und die Entstehung der linken Studentenbewegung aus dem Protest gegen den Vietnamkrieg. Die Linken Westeuropas strebten mehrheitlich keine autoritären Regierungen an. Mit ihrem späteren Maoismus schütteten einige das Kind mit dem Bade aus. Der Sowjetunion und dem real existierenden Sozialismus aber standen die meisten kritisch gegenüber. Die Rezensentin lernte nach der „Wende“ zahlreiche westdeutsche Kommunisten kennen, denen nach ihrer ersten Reise in die DDR die Überzeugung verlorengegangen war, es würde sich im anderen Teil Deutschlands um eine (im Vergleich zu ihrer heimatlichen) höher entwickelte Gesellschaftsform handeln.
Die Arbeiter an der Macht verfolgten ebenfalls keine egoistische Agenda neben der propagierten. Sie waren Überzeugungstäter.
Linke waren immer antibürgerlich und antikapitalistisch. Weder die Nazis noch die heutige Moralelite können das für sich an Anspruch nehmen. Hier waltet eine andere Logik. Sora behauptet:
Natürlich will „man“ als echter „Woker“ den Kapitalismus niederreißen, denn [!] dieser „woke Mainstream“, in dem man sich „eingerichtet“ hat, ist eben sozialistisch.
Kategorienfehler „Zirkelschluß“: Der Autor benutzt eine Zuschreibung als Argument, obwohl es noch darum geht, ihre Gültigkeit zu beweisen.
In einer anderen - zugegeben ebenfalls verwegenen – strukturellen Abstraktion stellt sich das Verhältnis von 68 zu heute eher dar als eine Korrelation zwischen Sozialismus und Faschismus, und zwar in dem Sinn, daß die europäische Studenten- und Künstlerbewegung eine aus dem Volk oder aus einer Bevölkerung kommende staatskritische Protestbewegung war, die sich gegen ein kleinbürgerlich-repressives Nachkriegsklima wandte, in dem die Konsumfreiheit nicht Hand in Hand ging mit individueller Freiheit, politische Justiz obwaltete und es vielen Menschen materiell sehr schlecht ging. Die kommunistische Bewegung vertrat die Interessen der Arbeitenden, also der Mehrheit der Bevölkerung, und war ebenfalls zunächst emanzipatorischer Natur. Mit ihrem (vorgeblichen) Sieg und dessen Repräsentanz im sozialistischen Staat kam die dogmatische Auslegung ihres Theoriensystems an die Macht und führte zur Erziehungsdiktatur. Auch die Studentenbewegung mündete – aller intellektuellen Studienkreise zum Trotz – in Dogmatismus und Gewalt, allerdings nicht auf der Basis von Macht, sondern von Ohnmacht, gepaart mit Anmaßung.
Strukturell ähnlich sind dagegen Nationalsozialismus und linksliberale Moraldiktatur in Bezug auf die Regierungstätigkeit: Eine Moral wird erfunden, am Reißbrett entworfen und vom Staat, der sie von oben nach unten durchgedrückt, benutzt – Restriktionen und Bestrafungen für ideologieverletzende Denkhandlungen inklusive. Ebenfalls eine Erziehungsdiktatur, die nur so lange funktioniert, wie die Mehrheit der Bevölkerung starken Glaubens ist.
Die Woke-Kultur gibt vor, soziale Minderheiten befreien zu wollen – tatsächlich ist der Wokeismus aber eine Disziplinierungs- und Machttechnik zur Durchsetzung eines Eliteprogramms globaler Oligarchen. Gerade in Deutschland haben die Machthaber alles andere im Sinn, als die Interessen ihres Volkes zu vertreten. Nationen und Völker sollen homogenisiert und nivelliert werden, um in einer Weltbevölkerung aufzugehen, die von einer Weltregierung verwaltet, manipuliert, kontrolliert und zu bestimmtem Verhalten gezwungen wird. Die Ideologeme und ideologische Theorien wie PC, Gender-Mainstreaming (mit ihrem LGBT und vieles mehr sowie mit ihren TERFs), Wokeness, Critical-Race-Theorie, Diversity, Sustainability, Equity, Identity, New Feminism, Critical Whiteness, Climate Change, Energy Efficiency oder Global Health Security, die jeder Ex-Bürger schlucken und repetieren soll, haben alle sehr wenig bis nichts mit historischem linken Denken zu tun, und ihre Erfinder dürften sich nicht auf die Frankfurter Schule berufen (was sie meines Wissens auch gar nicht tun). In der Logik der „Dialektik der Aufklärung“ liegt eher, solche Konstrukte als Sumpfblüten einer überdrehten, aus dem Ruder gelaufenen Aufklärung zu interpretieren. Es ist der Schlaf der Vernunft, der diese Ungeheuer gebar. Der Verstand richtet sich gegen sich selbst. Adorno, Horkheimer und Marcuse sähen ihre Aufgabe heute darin herauszufinden, aus welchen Gründen sich so viele Menschen für den Glauben an diesen Religionsersatz entschieden haben.
Referenzgrößen für die hier getroffenen Einschätzungen sind: Bürgerlichkeit, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Demokratie, auf der ökonomischen Basis die soziale Marktwirtschaft – für Sora und für die Rezensentin ebenfalls. Letztere sieht auch im National- und Liberalkonservatismus Prinzipien und Erkenntnisse, die in die Vorstellungen über mögliche Alternativen zum politisch-kulturellen Status quo einfließen sollten. Die glückliche Blütezeit des bürgerlichen Gesellschaftstyps mit seinem hohen zivilisatorischen Level scheint jedenfalls vorbei zu sein. Mehr war leider nicht drin. Denn auch dieser hat, wie alles, seine Zeit und ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Wo sich das Bürgertum auflöst, der Staat sich mit der Big Economy und den Leitmedien vermählt, Kulturfremde massenhaft Einlaß, Platz und Versorgung fordern und eine ganz neue Technologie auf quasirevolutionärem Wege als Wirtschaftsbasis geschaffen wird, wobei auch jedwede Territorialität sich auflöst und aus allen Menschen Weltbürger werden – da hat das bürgerliche, liberale-konservative und nationalliberale Prinzip seine Voraussetzungen eingebüßt.
Als Feindbild taugt die Linke nicht mehr. Sie ist mausetot – auch wenn manche immer noch mit ihr tanzen oder ringen. Das sieht man schon daran, daß der neue Präsident der USA ein Gegner der woken und politisch korrekten Moralideologie ist, ansonsten aber ein imperialistischer Kapitalist par excellence. Vielleicht erlöst er uns von der repressiven (und regressiven) Ideologie der europäischen medial-politischen Machtriege. Vielleicht hält er sich auch nicht an die Davoser und Bilderberger Eliten, fegt Pandemie-, Klima- und Migrationsmärchen vom Tisch, aber die Interessen der Oligarchen, jedenfalls der neureichen global agierenden amerikanischen Digitalkonzernchefs, wird auch er vertreten. Auch er ist ein lebensfeindlicher Technokrat, der mit Gates und Schwab die weltweite künstliche Ratio bis hin zur Erschaffung des Übermenschen durchsetzen will. Seine Ideologie ist erfrischend kurz: America First, Amerika über alles. Er erkennt den Wert von Nationen mit je eigener Kultur an und hält eine Weltregierung nicht für erstrebenswert – zumindest so lange, wie er nicht selbst l’état ist. Aber ist er deshalb rechts? Oder vielleicht doch ein bißchen neulinks, weil jeder technische Machbarkeitswahn antikonservativ ist und der heutige zudem eine antiliberale Stoßrichtung hat?
It doesn’t matter anymore! – Wir müssen unser politisches Koordinatensystem vollkommen neu justieren. Dafür benötigen wir alles andere, nur keine Obsessionen, unterkomplexe Abstraktionen oder Pauschalurteile. Und wenn es alle Welt an intellektueller Redlichkeit fehlen ließe und mit analytischem Unernst zu Werke ginge – wir nicht!
Tom Sora: Linke Intellektuelle im Dienst des Totalitarismus. Wie eine Kunstavantgarde den Weg für die Woke-Bewegung bereitete – das Beispiel John Cage. Münster: Solibro 2024, 416 Seiten, 24 Euro.
Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT.
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