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Kommentar | 25.06.2023
Farb-Täuschung
Die Nährwertampel auf Lebensmitteln könnte in Europa verpflichtender Standard werden. Als Wegweiser zu einer gesunden Ernährung ist sie aber untauglich.
Text: Hakon von Holst
 
 

Wollen Sie sich besser ernähren? Dann hat die Politik eine Lösung parat. Na klar, eine Ampel! Rot, gelb, grün und guten Appetit … Der Farbbalken auf der Lebensmittelverpackung erinnert an die Energieeffizienzklassen von Elektrogeräten. „Gesünder einkaufen und besser essen ist jetzt ganz einfach – mit dem Nutri-Score“, wirbt das Bundesministerium für Landwirtschaft. Die EU-Kommission hatte sich die Frist gesetzt, bis Ende 2022 den Vorschlag zu einer europaweit einheitlichen und für alle Hersteller verbindlichen Kennzeichnung zu erbringen. Nichts geschah. Jetzt fordern 316 Wissenschaftler zum Handeln auf.

Und die Zeit drängt: In einer Jugendstrafanstalt in den USA reduzierte sich das asoziale Verhalten um 48 Prozent, nachdem süße und fettige Snacks durch Nüsse, Käse, Obst und Gemüse ersetzt, vollwertige Getreidemahlzeiten statt Weißbrot aufgetischt und Tafelzucker-Spender durch Honig ausgetauscht wurden. Auch in Europa besitzt asoziales Benehmen einen Nährboden. In unserem Freiluftgefängnis redet alles über Waffen. Die verfeindeten Parteien sollten vielleicht an einen Tisch kommen, um gemeinsam eine Lösung dafür zu finden, wie jeder Mensch die Möglichkeit bekommen kann, Körper, Geist und Seele richtig zu ernähren. Dabei würden sie auch wieder die Zuneigung füreinander entdecken.

In deutschen Supermärkten verbreitet sich das Nutri-Score-Label seit Ende 2020. Die Nahrungsmittelhersteller entscheiden freiwillig, ob sie ihre Produktpalette kennzeichnen. Kriterium Nummer eins ist der Kaloriengehalt. Für gesättigte Fettsäuren, Salz und Zucker gibt es Minuspunkte, während Eiweiße und ein bedeutender Gehalt an Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchten das Ergebnis verbessern können. Fertig ist das Rating: Die Tiefkühlpizza mit Spinat hat Bestnote A erhalten, Kokosöl dagegen das rote E. Steht wohl für Erste Hilfe.

Wenn Sie mich fragen: Die Lebensmittelampel verleitet zu einer schlechten Ernährung. In einer repräsentativen Befragung sahen 89 Prozent im Nutri-Score eine Unterstützung, sich gesünder und ausgewogener zu ernähren. Klar, man soll nicht Nudeln mit Butter vergleichen, sondern aus dem Müsliregal die Mischung mit der grünsten Bewertung in den Wagen legen. Aber was werden die Nahrungsmittelkonzerne tun? Die überbieten sich bloß bei der Entwicklung neuer Süßstoffe und Lebensmitteltechnologien. Vollwertgebäck mit Honig streift die rote Linie. Wir nehmen lieber Weißmehlkekse mit Aspartam, Note A, und glauben, die beste Wahl zu treffen. Schon heute käme eine Cola light deutlich besser weg als die gute alte Apfelschorle.

Das Wesentliche spielt keine Rolle. Abgepacktes weißes Toastbrot oder vorfrittierte Pommes im Tiefkühlschrank – kein Wunder, dass die mit wärmster Nährwertempfehlung aus dem Regal fallen, wenn bei der Berechnung Vitamine, Mineralstoffe und E-Nummern so wenig gelten wie der Verarbeitungsgrad und die Umstände, unter denen eine Nahrungspflanze gewachsen ist.

Hat die Ackerfrucht Zeit zum Reifen, weil auf Mineraldünger verzichtet wird, kann sie besser Aromen und Geschmacksstoffe ausbilden. Genau die bräuchten wir, um uns gesund ernähren zu können. Wir Menschen sind nämlich keine Elektrogeräte, für die jeder Staatssekretär von Berlin aus das austarierte Rezept liefern könnte, alle Lebenskräfte aufzuwecken. Mit 230 Volt Wechselstrom funktionieren Maschinen, unser Organismus aber braucht ein vielfältiges Nahrungsangebot und ein Training, um mit seinen Sinnen instinktiv für uns herausfinden zu können, was Körper, Geist und Seele gerade wirklich brauchen. Das Schlimmste, was passieren kann: dass einem die ganze Astronautennahrung aus dem Supermarkt nicht mehr schmeckt.

Ich weiß, Forschungskommissionen setzen sich dafür ein, dass der Nutri-Score besser wird. Aber mal ehrlich, die Ernährungsempfehlungen der Wissenschaftler, denen unser Zeitgeist gerade Gehör schenkt, werden doch der Komplexität des Lebens niemals gerecht sein.

Hakon von Holst ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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Bildquellen: Chaiyan Anuwatmongkolchai, Pixabay