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Artikel | 22.03.2023
Braucht Demokratie Bargeld?
Ein freier Bürger benötigt ein freies, nicht überwachungsfähiges Zahlungsmittel. Trotzdem unterstützt ein Bundesministerium das Ende der Barzahlung.
Text: Hakon von Holst
 
 

„Digitale Zahlungen bieten erhebliche Vorteile“, wirbt ein Bündnis aus Regierungen, Großunternehmen und internationalen Organisationen. Sein Name ist Better Than Cash Alliance, zu Deutsch: Besser-als-Bargeld-Allianz. Gegründet von sieben Institutionen im Jahr 2012, darunter eine Behörde des US-Außenministeriums, die Großbank Citi und der Kreditkartenanbieter Visa (1). Die Mission: elektronische Zahlungen fördern, vor allem in Afrika und Asien. Hat das vielleicht einen geopolitischen Aspekt?

In vielen Ländern ist es üblich, eine Gehaltszahlung auf die Hand zu bekommen. Manchmal besitzt nur die Minderheit ein Konto; Bargeld ist Zahlungsmittel Nummer eins. Das zu ändern, könnte für die USA einen Vorteil bedeuten: Wir reden zwar über die Dritte Welt, aber US-amerikanische Banken und Zahlungsdienstleister mischen genau dort mit. Denn wer finanzkräftig ist, hat auf dem Markt gute Chancen. Bekanntlich profitieren die Kreditinstitute, wenn das Geld bei ihnen ist. Und es bleibt davon mehr auf den Konten, je geringer die Bedeutung von Bargeld als Zahlungsmittel ist. Geld unter dem Kopfkissen ist für die Banken ein verlorenes Geschäft. Bei alldem darf man nicht vergessen: Geld gibt Macht.

Handelt es sich also um eine Verschwörung gegen Banknoten und Münzen? Das Bündnis hat eine Antwort: „Wir wollen das Bargeld nicht abschaffen, sondern dafür sorgen, dass die Menschen die Wahl haben, wie sie Zahlungen tätigen und empfangen.“ Bar, mit Karte oder per Überweisung? Die Bevölkerung soll also wählen – so direkt wie bei einer Volksabstimmung in der Schweiz. Demnach hat es der Bürger in der Hand, welches Zahlungsmittel sich auf dem Markt durchsetzt. Klingt demokratisch, oder?

Als Sponsoren führt die Besser-als-Bargeld-Allianz neben dem Kapitalentwicklungsfonds der Vereinten Nationen, der Mastercard-Stiftung und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung die USA, Schweden und – wer hätte das gedacht? – auch die Schweiz und Deutschland. Die Bundesregierung überwies in den Jahren 2016 bis 2022 insgesamt 1,3 Millionen Euro (2). Ein Grund, genauer hinzusehen, woran sich der Steuerzahler beteiligt. Wie steht es mit dem Vorwurf, dass die Allianz das Bargeld als Zahlungsmittel in Wahrheit vom Markt drängen will?

Auf Nachfrage heißt es aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Besser-als-Bargeld-Allianz sei ein Partner, der „den Übergang von Bargeld zu digitalen Zahlungen unterstützt“. Sie habe das Ziel, „mehr Wahlfreiheit bei der Durchführung und dem Erhalt von Zahlungen anzubieten“. Die beiden Aussagen scheinen nicht zueinanderzupassen. Worin besteht denn die Wahlfreiheit, wenn der Übergang in die digitale Bezahlwelt vollzogen ist?

Die erwähnte Behörde des US-Außenministeriums, USAID, ist nicht nur Sponsor und Mitgründer der Besser-als-Bargeld-Allianz, nein, sie hat auch Catalyst ins Leben gerufen. Auftrag dieser Initiative ist es, in den Worten von USAID, in Indien „alltägliche Einkäufe bargeldlos zu machen“. Es geht hier um die Zahlungsgewohnheiten von 1,4 Milliarden Menschen (3).

Catalyst bietet auf seiner Internetseite einen „Handlungsleitfaden für kleine Unternehmen, bargeldlos zu werden“, und äußert sich an anderer Stelle in überheblichem Ton über Barzahler: In der Millionenstadt Jaipur habe man es mit den „üblichen Herausforderungen im Verhalten“ der Bevölkerung zu tun, zum Beispiel mit der „mangelnden Bereitschaft der Verbraucher, digital zu bezahlen“. Es geht also nicht um Wahlfreiheit, sondern darum, Bargeld als Zahlungsmittel in den Läden zu beseitigen. Und siehe da: Die Initiative listet das Besser-als-Bargeld-Bündnis rückblickend als einen ihrer maßgeblichen Kompetenzpartner (4).

„Ich möchte, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft ohne Bargeld wird“, sagte Premierminister Narendra Modi 2017 – keine zwei Jahre nach dem Beitritt zur Better Than Cash Alliance. Läge der Allianz an der Wahlfreiheit, hätte sie die Zusammenarbeit mit der indischen Führung auf Eis gelegt. Es wird deutlich: Der Bürger braucht keine Wahl zu haben zwischen Bargeld und elektronischen Zahlungsmitteln. Die Vielfalt soll sich auf eine Monokultur aus Kreditkarten, Bezahl-Apps und anderen digitalen Angeboten beschränken. Auch 2023 fließen wieder 200.000 Euro aus der deutschen Staatskasse an die Besser-als-Bargeld-Allianz (5).

Ziviler Ungehorsam und Pressefreiheit

Die erste Handelskette in der Bundesrepublik lehnt Bargeld ab – seit dem 16. Januar 2023. Die großen Medien berichteten am selben Tag (6). In der Schweiz könnten Banknoten und Münzen bald Eingang in die Verfassung finden. Wenn das klappt, muss der Staat auch in ferner Zukunft Bargeld in Umlauf bringen, auf dass ein jeder bar zahlen kann, der bar zahlen will. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat das Wort, nachdem 137.000 beglaubigte Unterschriften für das Ansinnen zusammengekommen sind. Die Nachrichtenagenturen Reuters und Bloomberg berichteten im Februar 2023, Medien von Kanada bis Indien griffen das Thema auf – in der deutschen Presse kein Satz. Hat das Bargeld etwa keine grundlegende Bedeutung für eine Demokratie?

2019 ist eine Stadt auf den Beinen: Demonstrationen in Hongkong. Eine Menschenmasse in der Metro wartet vor den Fahrscheinautomaten. Chipkarten bleiben daheim, Bargeld ist wieder König. Man ist froh, dass hier noch Wahlfreiheit besteht: Die Angst vor China sitzt in den Knochen. Und die Polizei könnte Ticketbuchungen zu Ermittlungszwecken verwenden.

Proteste gegen die Regierungspolitik gehören zu einer Demokratie. Aber wo die Regierung vollautomatisch erfährt, wer gegen ihre Arbeit auf die Straße geht, ist die innere Hürde größer, die Demonstrationsfreiheit zu nutzen. Im Falle Hongkongs sprachen Medien wie CNN von einer Demokratiebewegung. Aber auch die Pressefreiheit findet im Bargeld einen Stützpfeiler. Ihm ist mit zu verdanken, dass uns gute Informationen erreichen: „WikiLeaks: Schlecht für die Demokratie?“, fragt CNN im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016. Der Moderator spricht von „illegalen Hacks“ und betont dabei die moralische Verwerflichkeit (7). WikiLeaks hatte mehrfach zur Innenwelt der Demokraten publiziert.

Die Informationen liefen der Vorstellung von demokratischen Verhältnissen zuwider: Michael Froman, damals in führender Position bei der Großbank Citi, schrieb zum Beispiel eine Nachricht an John Podesta, und zwar mit geschäftlicher E-Mail-Adresse. Beigefügt drei Listen: „Dies sind die Namen, die bisher von verschiedenen Quellen für hochrangige Positionen empfohlen wurden.“ Das war im Oktober 2008. Einen Monat später folgten die Präsidentschaftswahlen, und Podesta übernahm nach dem Sieg Obamas die Aufgabe, Kandidaten für Regierungsposten zu suchen. Oh, Überraschung: Die neue Administration spiegelte dann in vielen Punkten das, was Michael Froman wollte.

Solch ein Blick hinter die Kulissen gibt Gelegenheit, die eigenen Vorstellungen von der Realität zu korrigieren und neu darüber nachzudenken, worauf es ankommt, wenn ein gutes Miteinander wirklich gelingen soll. Ist das nicht wichtig für eine Demokratie?

WikiLeaks ist in hohem Maße auf Spenden angewiesen. Im Dezember 2010 stoppten nacheinander PayPal, Mastercard, Visa und die Bank of America alle Zahlungen an WikiLeaks (8). Ende 2012 resümierte die Organisation: „In den letzten zwei Jahren hat die Blockade 95 Prozent der Zuwendungen an WikiLeaks zum Erliegen gebracht und die Liquiditätsreserven von mehr als einer Million Dollar im Jahr 2010 auf weniger als tausend Dollar im Dezember 2012 schrumpfen lassen.“

Bargeldspenden im Briefumschlag waren alles andere als die Haupteinnahmequelle (9). Und dennoch tun Banknoten und Münzen das Ihre, dass eine gesellschaftskritische Publikation wie WikiLeaks bestehen kann. In der Landwirtschaft profitiert eine Mischkultur von der Symbiose, während jede Monokultur den Boden auszehrt: So trägt auch eine Vielfalt funktionierender Zahlungssysteme zu einem besseren Geldsystem bei. Bargeld zum Beispiel reguliert die Bankenbranche. Denn die muss sich in gewisser Weise um ihre Kunden bemühen, sonst räumt der Bürger sein Konto.

Und dann gibt es die Kryptowährungen. Seit ihrem Aufkommen nutzt WikiLeaks auch diesen Zahlungskanal. Chinas Zentralbankchef, Zhou Xiaochuan, sagte 2016, der staatliche digitale Yuan diene dem Ziel, das Bargeld zu ersetzen. Bei der Bekämpfung von Bitcoin & Co. greift das Land zu immer drastischeren Mitteln. Müssen wir damit rechnen, dass uns auch im Westen jedes freie Zahlungssystem genommen wird, wenn Banknoten und Münzen erst einmal Geschichte sind? Nichts ist einfacher, als im Alltag bar zu bezahlen. So kann jeder dazu beitragen, dass die Vielfalt bleibt. Der WikiLeaks-Gründer hat das ebenfalls getan.

Und ihm ist mit zu verdanken, dass Edward Snowden dem Gefängnis entronnen ist: Gemeinsam mit Sarah Harrison und vielen anderen Menschen verhalf Julian Assange dem NSA-Whistleblower zur Flucht aus Hongkong (10). Snowden hatte sich dort mit Journalisten getroffen, bevor Glenn Greenwald am 5. Juni 2013 die Bombe platzen ließ: Der erste Zeitungsbericht über das Ausmaß der digitalen Überwachung erschien.

Die Flucht nahm ihren Anfang schon auf Hawaii. Die Insel Oahu war für Snowden Lebens- und Arbeitsort. Und hier traf er die Vorbereitungen: Er räumte seine Bankkonten ab, „steckte Bargeld in eine alte stählerne Munitionskiste“, damit seine Lebensgefährtin es finden und die Regierung es nicht beschlagnahmen würde können (11). Später, schreibt Snowden, „fuhr ich zum Flughafen und kaufte ein Ticket für den nächsten Flug nach Tokio, das ich bar bezahlte. In Tokio kaufte ich ein weiteres Ticket, das ich ebenfalls bar bezahlte, und traf am 20. Mai (2013) in Hongkong ein, der Stadt, in der die Welt mir zum ersten Mal begegnen würde“ (12).

Als unzählige Pressevertreter vor Snowdens Hotel erschienen, schleuste ihn der Menschenrechtsanwalt Robert Tibbo durch einen Seitenausgang hinaus. Von da an kümmerte sich eine Flüchtlingsfamilie darum, dass der Whistleblower alles hatte, was er zum Leben benötigte. Sein Versteck galt als das bestgehütete Geheimnis von Hongkong. Weil seine Gastgeber nichts von ihm annehmen wollten, deponierte Snowden vor dem Abschied heimlich etwas Bargeld in ihrer Wohnung (13).

Erosion der Menschlichkeit

Es zeigt sich: Banknoten und Münzen tragen zu etwas Sinnvollem bei. Sie helfen uns, wenn der Staat die Grenzen überschreitet. Doch Bargeld kann ebenso gut bei kriminellen Plänen eine Rolle spielen. Auch darum gehöre es abgeschafft, meinte der damalige Chef der Deutschen Bank, John Cryan, auf dem Weltwirtschaftsforum 2016. Unbeachtet bleibt: Wer Schaden anrichten will, der findet einen Weg – so oder so. Solange die Wurzel des Problems Nahrung besitzt, stellt sich keine Verbesserung ein. Und, wer weiß, vielleicht bekäme sie mit der Bargeldabschaffung eine Düngung.

Das werden wir gleich überprüfen. Nehmen wir zuerst ein Ideal für Demokratie zu Hilfe: Jeder denkt über gesellschaftliche Fragen nach, jeder kann ein Anliegen zur Debatte stellen – am Entscheidungsprozess nehmen alle teil. Jedoch findet die Entscheidungsbefugnis der Gemeinschaft ihre Schranken dort, wo die Freiheiten des individuellen Menschen tangiert sind und wo die Lebensgrundlagen infrage stehen. Falls wir uns solch eine Gesellschaft wünschen, sollten wir die Frage stellen: Wohin führt es, wenn sich ein Mensch daran gewöhnt, dass in sein Leben eingegriffen, dass er bevormundet, überwacht, kontrolliert, eingeschränkt und unterdrückt wird?

Unter diesen Umständen nimmt sich der Bürger eher als Objekt wahr oder als Erfüllungsgehilfe fremder Absichten. Und kaum hat er dieses Menschenbild akzeptiert, behandelt er auch seine Mitmenschen entsprechend. Weshalb sollte ein Bürger in dieser Situation noch Wertschätzung für Demokratie empfinden, für die Meinung des anderen? Woher sollte er das Interesse nehmen, Ideen zu entwickeln und sich einzubringen?

Anders kommt es, wenn man dem Menschen Liebe entgegenbringt, wenn man ihn ermutigt, sich zu entfalten. Dann nämlich entdeckt er sich als Gestalter des Lebens. Und wann immer er eine Hürde überwindet, stehen ihm Freude und Glück ins Gesicht geschrieben. Bei kleinen Kindern kann man das oft beobachten. Das Beste ist: Wenn solche Emotionen in einem Menschen wohnen, dann ist da auch der Wunsch, dass es den Mitmenschen ebenso gut gehen möge. Darum sollte eine Demokratie die Freiheiten des Individuums garantieren und die Bedingungen dafür verbessern, dass sich starke Persönlichkeiten entwickeln können. Der umgekehrte Weg führt in einen Teufelskreis – die Demokratie schafft sich dann Scheibe für Scheibe selbst ab.

Edward Snowden warnt uns vor der totalen Überwachung, vor der Erosion der Bürgerrechte. Er selbst hat die Konsequenzen gezogen: Zum Beispiel zahlt Snowden im Alltag bar – heute in Russland, damals in Amerika (14). Was geschieht bei uns?

Die ersten Bäckereien lehnen Bargeld ab (15); auch Cafés und Restaurants verabschieden sich aus der analogen Welt (16). Die Kundschaft hatte immer öfter zur Karte gegriffen. Wenn dieser Trend anhält, wird es den Geschäften zu teuer, die Kasse abzurechnen und Geld zur Bank zu bringen. Derweil sieht jeder dritte Bundesbürger häufig oder gelegentlich Schwierigkeiten, Bargeld abzuheben. In der Schweiz könnte innerhalb von fünf Jahren die Hälfte der Bankautomaten verschwinden (17). Gleichzeitig entfallen auch Möglichkeiten, Scheine und Münzen einzuzahlen. Nicht wenige Unternehmen wollen früher oder später „mit einer Reduktion der Bargeldnutzung reagieren“.

„Schwedens Bahn akzeptiert jetzt in die Hand implantierte Chips als Ticket“, hieß es in der Berliner Morgenpost 2017. Auch aus der Schweiz kommen ähnliche Ideen: Die Großbank Credit Suisse (genau die, ja) hat das digitale Sparschwein entwickelt. Zusammen mit einer Debitkarte soll es Kinder ab sieben Jahren „auf die bargeldlose Welt vorbereiten“, so das Portal Watson. Immerhin, das Schwein kann noch Münzen schlucken. Seinen Bauch öffnet es aber erst, wenn Papa oder Mama auf dem Smartphone Freigabe erteilen. So wird der Bürger von klein auf daran gewöhnt: Ob ich kaufen oder verkaufen kann, entscheide nicht ich, sondern die Technik, die Bank und der Staat.

Ein Verbraucher gibt mit Karte 25 Prozent mehr Geld aus in einer Pizzeria, wirbt Kreditkartenanbieter Visa. In einem familienfreundlichen Restaurant sogar 40 Prozent. Natürlich richten sich diese Worte weniger an die Allgemeinheit als an Unternehmer. Dass digitale Zahlungsmittel den Konsum begünstigen, legen verschiedene Studien nahe (18), aber auch die Beobachtungen in der Bäcker- oder Gastrobranche. Wenn die Wirtschaft den Kunden leichter verführen kann, ist das kein Gewinn: weder für die Umwelt noch für die Gesellschaft.

Zwei Wege und eine Wahl

Geld ist eng mit Überleben verknüpft. Man bekommt alles Mögliche, solange man zahlen kann: Nahrung oder ein Dach über dem Kopf. Mangelt es bei den Einkünften, ist das Unbehagen groß. In einer Langzeituntersuchung stellten Forscher fest, dass in einer Gruppe schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen doppelt so häufig auftraten. Was verband diese Menschen miteinander? Sie alle hatten zuvor Einkommenseinbußen erlitten. Als Ursache zogen die Wissenschaftler Stress im Zusammenhang mit finanziellen Sorgen in Erwägung.

Unter psychischer Belastung kann man oft wenig machen. In der Ruhe fällt es leichter, seinem Gegenüber zuzuhören, eine andere Meinung zu durchdenken und tiefsinnig über das Leben zu reflektieren. Für eine Demokratie wäre das sehr wichtig. Was vermag das Bargeld dazu beizutragen?

Mit Banknoten und Münzen halten wir unsere finanziellen Möglichkeiten in den eigenen Händen. Das schenkt uns das Gefühl von Unabhängigkeit, Sicherheit und Beweglichkeit. Einer Bankkarte sieht man nicht an, ob das Geld noch da ist. Wenn wir uns an der Ladenkasse unwiederbringlich von einem Geldschein trennen, bleibt das in Erinnerung. So geht ins Gespür über, wie viel wir uns leisten können. Der unbequeme Weg zum Bankautomat gibt einem Luft, eine Investition zu überdenken.

Wir erleben eine neue Bewegung: In kurzen Filmaufnahmen erklären junge Menschen, wie sie ihre Finanzen unter Kontrolle bringen. Alle Ausgaben werden budgetiert. Am Monatsanfang wird das Einkommen aufgeteilt. Für jeden Bereich liegt ein Bargeldumschlag bereit: Kleidung, Nahrung, Fortbildung, Rücklagen … Alles läuft streng nach dem Grundsatz: erst sparen, dann kaufen, und zwar bar. Das Stichwort Umschlagmethode verzeichnet auf der Videoplattform TikTok 225 Millionen Aufrufe. Inzwischen berichten die großen Medien.

Der Geldumgangstrainer Hansjörg Stützle sagt: „Bargeld ist der Schlüssel für Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind – und es ist der Schlüssel, nicht in Schwierigkeiten zu kommen.“ Er spricht aus Erfahrung, ist es doch einst sein Beruf gewesen, Unternehmen und Privatpersonen aus Geldnot herauszuhelfen. Mit der einwöchigen Bargeld-Challenge wagt Hansjörg Stützle ein Experiment. Er will die Sinnhaftigkeit von Banknoten und Münzen für jedermann erlebbar machen. Die Premiere mit 400 Teilnehmern im Januar 2023 war ein Erfolg: Viele entwickelten Begeisterung für Bargeld. Und genau das braucht es, damit das einzige etablierte freie Zahlungsmittel bestehen kann.

Ein guter Überblick und die Kontrolle über die eigene Haushaltslage verschaffen Gewissheit und Ruhe. Die Ausgaben sinken und man kommt aus dem Hamsterrad heraus. Es ist wieder möglich, klare Gedanken zu fassen und darüber nachzudenken, was einem wirklich wichtig ist im Leben. Wenn das emotionale Niveau steigt, tauchen mehr Ideen auf. Wir finden einen Weg, wie das Geld unseren Zielen und Visionen dienen kann.

Wer Banknoten in Briefumschlägen angespart hat, geht mit einer anderen Einstellung einkaufen. Das Gefühl, knausern zu müssen, weicht einer Fülle. Unseren Werten kommt das entgegen: Viele Menschen lehnen zum Beispiel die Massentierhaltung ab, ohne die Konsequenzen zu ziehen. Nun jedoch stehen sie vor dem Regal und entscheiden sich für bessere Lebensmittel. Sie nehmen einen höheren Preis in Kauf, aber sparen bei Fertiggerichten und Süßigkeiten. Davon profitiert die Gesundheit und das Selbstwertgefühl. Veränderungen in der Landwirtschaft rücken näher oder werden überhaupt erst möglich.

Auf höherem emotionalen Niveau spürt der Mensch den Wunsch, dass es auch dem Gegenüber gutgeht. Und so wird er öfter ein Trinkgeld geben, mit jovialer Geste Banknoten und Münzen überreichen und für die guten Waren danken. Bargeld schenkt plötzlich Freude und gewinnt an Popularität.

Die nächste Abstimmung ist an der Ladenkasse. Für uns und unsere Kinder: Wollen wir die digitale Kontrolle oder eine freie Gesellschaft? Wir haben die Wahl.

Dieser Artikel erschien zuerst am 15. März 2023 auf Rubikon.

Ergänzende Quellenangaben

(1): Siehe https://web.archive.org/web/20221001203323/https://blog.usaid.gov/2012/09/announcing-the-better-than-cash-alliance/ und https://web.archive.org/web/20220801095045/https://www.citi.com/citi/citiforcities/urbanexchange/ncitihelpslaunchbetterthancashalliance.htm

(2) Errechnet aus Drucksache 19/25976 in Verbindung mit Drucksache 19/5242 und einer Auskunft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber dem Autor.

(3) In einem Dokument von Google und The Boston Consulting Group aus 2016 wird das Potenzial von Indien als digitaler Zahlungsmarkt ein 500-Milliarden-Goldtopf genannt. Die Autoren bedanken sich unter anderem bei einem Verantwortlichen von Visa. Siehe https://web.archive.org/web/20230303091617/https://web-assets.bcg.com/img-src/BCG-Google%20Digital%20Payments%202020-July%202016_tcm9-39221.pdf und https://norberthaering.de/en/war-on-cash/malick-demonetisation-india/?lang=en

(4) Mehr noch: Die Better Than Cash Alliance organisierte im Monat der Gründung von Catalyst, also im Oktober 2016, eine Konferenz, um die Initiative vorzustellen, Quelle: https://m.rediff.com/business/report/digital-payments-have-become-a-fashion-statement-demonetisation-cashless-catalyst/20170117.htm

(5) Auskunft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber dem Autor

(6) Siehe https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/technikhaendler-gravis-nimmt-kein-bargeld-mehr-an-18606350.html und https://www.bild.de/geld/wirtschaft/wirtschaft/gravis-erster-technik-haendler-nimmt-kein-bargeld-mehr-82571340.bild.html und https://www.spiegel.de/netzwelt/web/gravis-alle-40-filialen-nehmen-ab-sofort-kein-bargeld-mehr-an-a-7b8dadeb-3f74-4e97-9e78-42a19c021d35

(7) Zitat aus dem Video: „So what is the future of such illicit hacks to our democrazy, our privacy and the electoral system?“ Zum Verhältnis zwischen CNN und Julian Assange siehe auch: https://www.nachdenkseiten.de/?p=53579

(8) Bemerkung am Rande: Die vier genannten Finanzunternehmen stehen auch mit dem Ruf nach der Beseitigung des Bargelds als Zahlungsmittel in Verbindung: https://bargeldverbot.info/2022/07/07/staatsfeind-nummer-eins/ und https://bargeldverbot.info/2022/03/22/bankenkrieg-bargeld/#Bank-of-America

(9) Vergleiche https://web.archive.org/web/20101103010914/http://www.wikileaks.org/media/support.html mit https://web.archive.org/web/20150204205307/http://wikileaks.org/IMG/pdf/WikiLeaks-Banking-Blockade-Information-Pack.pdf

(10) Siehe Edward Snowden: Permanent Record. Meine Geschichte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2019, Seite 379

(11) Ebenda, Seite 357

(12) Ebenda, Seite 361

(13) Ebenda, Seite 375

(14) Ebenda, Seite 243

(15) Siehe etwa https://www.merkur.de/bayern/nuernberg/bargeld-nuernberg-brot-baeckerei-der-beck-kunden-zahlung-karte-baecker-ohne-91572249.html oder https://bargeldverbot.info/2022/02/10/baeckerpreise-steigen/#Bargeld-abschaffen-Baecker

(16) Siehe zum Beispiel https://web.archive.org/web/20230208134044/https://benrahim.de/blogs/news/in-diesem-restaurant-ist-bargeld-tabu oder https://t3n.de/news/endlich-bargeldlos-restaurant-1230760/ oder https://www.augsburger-allgemeine.de/neu-ulm/Ulm-Als-erstes-Caf-in-Ulm-Caf-Einstein-schafft-Bargeld-ab-id58075616.html oder https://norberthaering.de/news/kein-bargeld-muenchen/ oder https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/bei-diesen-haendlern-kann-nur-noch-mit-karte-bezahlt-werden-id65368576.html oder https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/neuer-trend-in-berlin-wir-akzeptieren-kein-bargeld-li.318957

(17) Six betreibt rund 6000 der fast 7000 Automaten in der Schweiz und in Liechtenstein: https://www.netzwoche.ch/news/2022-02-07/die-zukunft-der-bargeldversorgung-in-der-schweiz

(18) Vergleiche Studien und Fachartikel: https://www.apa.org/pubs/journals/releases/xap143213.pdf https://link.springer.com/article/10.1023/A:1008196717017 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1567422315000149 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0148296316000242 https://link.springer.com/article/10.1007/s11408-016-0272-x

Hakon von Holst ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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