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Rezension | 03.01.2023
Der Meister des Enkeltricks
Wächst mit dem Vermögen auch die Naivität? Die Doku „Der maskierte Betrüger“ zeigt: Erfolg und Wohlstand schützen nicht vor einer guten Geschichte.
Text: Marcel Weis
 
 

Vielleicht haben Sie schon einmal vom sogenannten Enkeltrick gehört. Ein Trickbetrüger gibt sich am Telefon als Verwandter eines Rentners aus, um sich dessen Erspartes zu ergaunern. Stellen Sie sich das Ganze nun um ein Vielfaches größer vor. Und nehmen Sie an, dass es sich bei den Opfern nicht um Rentner, sondern um hochrangige Persönlichkeiten handelt und der Täter nicht ein paar tausend, sondern über 100 Millionen Euro erbeuten konnte – das alles am Telefon. Gilbert Chikli heißt der Mann, der von 2005 bis 2017 mit seiner Überzeugungskraft und einer gehörigen Portion Dreistigkeit den Eliten Frankreichs das Geld aus der Tasche log.

Seit 1. Dezember 2022 ist seine unglaubliche Geschichte nun als Dokumentation auf Netflix zu sehen. In Der maskierte Betrüger zeigen die Regisseure Dominic Sivyer und Yvann Yaghi den Weg eines Überzeugungsgenies zu einem der raffiniertesten Betrüger unserer Zeit. Ein Lehrstück in Sachen Manipulation.

Vom Jeans-Verkäufer zum Millionär

Gilbert Chikli ist ein äußerst charismatischer Mann. Er hat ein Gespür für Menschen, ist redegewandt und weiß stets eine gute Show abzuliefern. Nutzt er seine Überzeugungskraft als Jugendlicher noch für den Verkauf von Jeans, so greift er später zum Telefonhörer. Ein Mann, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im Pariser Viertel Belleville, der weder höhere Bildung noch eine Berufsausbildung genossen hat. Umso größer muss die Schmach für seine Opfer sein, die er am Telefon um Millionenbeträge brachte. Stets handelte es sich dabei um erfolgsverwöhnte Menschen. Als angeblicher Mitarbeiter einer Anti-Terror-Behörde bringt er im Jahr 2005 mittlere Manager dazu, ihm bis zu zehn Millionen Euro zu überweisen. Zwischenzeitlich wird er verhaftet und lässt sich von einem Regisseur die Kaution bezahlen – im Tausch gegen die Rechte an seiner Geschichte. Zehn Jahre später setzt er dann tatsächlich eine Maske auf und spielt den damaligen französischen Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian im Videocall – ebenfalls mit Erfolg. Allein der Aga-Khan, religiöses Oberhaupt der Ismailiten, überweist ihm gutgläubig 20 Millionen Euro. Insgesamt erbeutet der Trickbetrüger über 100 Millionen Euro, bis er endgültig gefasst wird.

Gefühle als Hebel

Gilbert Chiklis Geschichte wird in der Doku durch Interviews und Telefonaufnahmen seiner Coups zu einer authentischen Erzählung. Zu Wort kommen auf der einen Seite ehemalige Mitstreiter und Ex-Frauen – auf der anderen Seite die Polizei und Opfer. In einer Sache sind sich die Lager jedoch einig: Sie alle bewundern Draufgängertum und Überzeugungsgabe des Täters. Er scheint tatsächlich Eindruck auf seine Mitmenschen zu machen.

Die Regisseure zeichnen zum einen das Psychogramm eines Trickbetrügers, zum anderen werden menschliche Schwachstellen beleuchtet. Chikli manipuliert seine Opfer – er spielt mit den Gefühlen der Menschen und nutzt sie für seine Zwecke. Genauso wie soziale Faktoren. Mit der Maske des Verteidigungsministers nutzt er das Ansehen des französischen Staates. Die Politiker und er haben weitaus mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Beide setzen auf Angst, um Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken – mögen auch die Motive unterschiedlich sein.

Dass Betrüger zu hohem gesellschaftlichen Ansehen gelangen können, haben der Fall der Fake-Bluttest-Milliardärin Elizabeth Holmes und die Pleite der Kryptobörse FTX gezeigt.

Spannende Unterhaltung mit Beigeschmack

Nach 90 Minuten endet die unglaubliche Geschichte und man kann es immer noch nicht so richtig fassen. Wie zum Teufel konnten so viele Menschen seiner Masche auf den Leim gehen? Genügt es wirklich, eine halbwegs stimmige Geschichte am Telefon zu erzählen – und schon schwimmt man im Geld? Ein Schreibtisch aus Massivholz, eine Frankreich-Flagge, eine Maske – und schon wird man für einen Minister gehalten? Am Ende lässt die Doku den Zuschauer leicht ungläubig über das zurück, was man da gesehen hat. Aber man hat es nun mal gesehen. Das lässt schnell vergessen, welch immense Schäden mit derartigem Betrug angerichtet werden. Wer nach Unterhaltung mit Kopfschüttelfaktor sucht oder sich fragt, warum der Enkeltrick funktioniert, dem sei Der maskierte Betrüger empfohlen.

Der maskierte Betrüger, Dokumentation, erschienen im Dezember 2022 auf Netflix

Marcel Weis ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

Bildquellen: S K, Pixabay