Der Titel kommt aus Heidenheim, zu lesen auf einem Plakat, das für einen meiner Vorträge warb. Ich konnte dort also Donnerstag gleich mit Platon einsteigen, der in seinem „idealen Staat“ ganz selbstverständlich davon ausging, dass das Volk belogen werden muss. Edle Täuschung, notwendige Täuschung. Die Arbeiter sollen arbeiten, Punkt. In diesem Staat gibt es zwei weitere Klassen: Wächter und Könige – Philosophen wie er, die die Welt retten müssen und auch entscheiden, wer Wächter werden darf. In der Sprache von heute: Politiker, Journalist, Wissenschaftler, Beauftragter, Trusted Flagger. Die Könige entscheiden auch, welche Geschichten die Wächter hören dürfen, schon von den Ammen und Müttern. Dem Propagandaforscher in mir geht das Herz auf, wenn er das liest. Die Wahrheit ist Platon egal, frei nach dem Motto: Nützlichkeit zuerst. Veröffentlicht wird nur das, was wir, die Philosophenkönige, für sinnvoll halten. Ansonsten: verschweigen, zensieren, umschreiben.
Ich hätte in Heidenheim mit Nexus weitermachen können, dem neuen Buch von Yuval Noah Harari. Platon kommt dort zwar nicht vor, dafür aber die „edle Lüge“ in einem modernen Gewand. Information, so lernen wir bei Harari, ist dafür da, „um Ordnung zu schaffen und die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen“. Ich konnte dieses Buch überspringen, weil ich drei Tage vorher ein paar kleine Harari-Kollegen in Aktion erlebt hatte. Gegendemo in Grafing, organisiert von Bunt statt Braun, einer Gruppe von Menschen, „die rechtsextremen Gedankengut und Umtrieben im Landkreis Ebersberg entgegen treten“. Ich verlinke das zum einen, damit gar nicht erst der Verdacht aufkommt, ich denke mir die Rechtschreib- und Grammatikfehler aus. Zum anderen kann ich so die Unterstützerliste überspringen. Wohin auch das Auge blicket, Steuergelder nur ringsum. Leider keine Moorsoldaten, sondern Wächter der Macht, am nächsten Tag unterstützt von einer Kompanie (zwei Schreiber, ein Fotograf) der Süddeutschen und einer Heckenschützin, Leiterin der Volkshochschule, Mitglied im BR-Rundfunkrat und im Programmbeirat von Arte, die in der Zeitung sagen darf, jemand wie ich, der „das demokratische System infrage stellt, hat bei der VHS nichts zu suchen“. Auch sprachlich unterste Schublade.
Der Zufall wollte, dass ich im Zug ein Rowohlt-Büchlein über „Polytechnische Bildung und Erziehung in der DDR“ in der Tasche hatte, geschrieben Anfang der 1960er von Helmut Klein, einem Arbeitersohn, der sich mit nicht einmal 30 habilitiert hatte und damals schon Dozent an der Humboldt-Universität war. Herausgeber Ernesto Grassi, von 1948 bis 1970 Professor an der LMU in München, berichtet im Vorwort von den Kämpfen um diesen Text. Die Mauer war gerade gebaut, und viele in der Bundesrepublik sahen nicht ein, warum man einem DDR-Professor zuhören sollte. In der Sprache von heute: keine Bühne bieten.
Ernesto Grassi hat, das kann man seinem Vorwort entnehmen, viele Briefe geschrieben, „lange Gespräche“ geführt und am Ende alles auf seine Kappe genommen, auch gegen ein Veto der Rowohlt-Redaktion. Er begründet das mit seinen Erfahrungen aus den beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts. In Weltkrieg eins habe er, ein junger Italiener, die „unterschiedslose Boykottierung jeder deutschen Idee, jeder deutschen Schrift, jedes deutschen Werkes“ erlebt und ein paar Jahre später gesehen, dass sich Geschichte doch wiederholt. Wieder sei „jeder Kontakt mit Deutschland, ja selbst jede Information über das Land der Kollektivschuld“ verpönt gewesen. Grassi hat beide Male für Benedetto Croce gekämpft, einen Autor, der sich dem Verbot nicht beugte, weil er Deutschland nicht aus seinem Denken verbannen konnte und wollte. Warum er, Grassi, jetzt dem DDR-Professor Klein in einem Leuchtturm der westdeutschen Aufklärung das Wort erteile, obwohl es keinen größeren Gegensatz zu seinen „persönlichen Anschauungen über Bildung und Erziehung“ geben könnte? Das „Informiertsein, ja vor allem das Zu-Worte-kommen-Lassen, war für mich immer eine Grunddevise unserer Welt, die wir nicht nur mit Worten, sondern auch und gerade auch in diesen Fällen mit Taten gegenüber anderen Welten beweisen sollten.“
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Es gibt auch heute Menschen vom Format Ernesto Grassis. Ich denke an den Kirchenmann, der in Heidenheim den Saal betreibt, und an den Hotelier gestern in Leipzig, der seinen Keller für jeden öffnet, der auf Austausch setzt, und sich dabei auch von Protestmails nicht einschüchtern lässt, oder an Jörg Walter, den Vorsitzenden des VHS-Fördervereins in Grafing. Eben erreicht mich ein Leserbrief an die SZ, geschrieben von einem Gründungsmitglied des Vereins „Bunt statt Braun“. Tenor: Warum haben die Demonstranten die Gelegenheit ausgelassen, mit Meyen bis in den späten Abend zu diskutieren? Warum hat die Volkshochschule Angst vor „kontroversen Themen“? Und wo ist der Beleg, dass dieser Referent Verschwörungserzählungen verbreitet und Antidemokrat ist? Mein Fazit: Noch haben die Wächter der Macht nicht gewonnen. Aber man muss sich schon aus der Deckung wagen, wenn „unsere Welt“ (Grassi) nicht untergehen soll.