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Interview | 04.05.2024
Die Linke – Trial and Error
Ulrich Gausmann tourt gerade mit seinem Buch „Wirtschaft und Finanzen neu gedacht“ durchs Land. Sylvie Weber sprach mit ihm über sein Engagement in linken Bewegungen und deren Zukunft.
Text: Sylvie Weber
 
 

Ulrich, wie und durch wen wurde dein Interesse für Politik geweckt?

Der Auslöser, mich politisch zu betätigen, war die Entscheidung, ob ich zur Bundeswehr gehen oder den Kriegsdienst verweigern soll. Bei der Beratung zur Kriegsdienstverweigerung traf ich auf Roland. Er war in der Ostermarschbewegung aktiv und forderte mich auf, mich auch persönlich in der Friedensbewegung zu engagieren. Seitdem bin ich dabei.

Über welchen Zeitraum sprechen wir da?

Ich kam etwa 1980 zur Ostermarschbewegung, die damals einen großen Aufschwung hatte.

Und wie ging es dann weiter?

Die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa hat zu großen Widerstandsaktionen geführt. Wir haben vor Ort mehrere Friedenswochen organisiert, die Aktiven kamen aus vielen verschiedenen Gruppen.

Wer war alles dabei?

Pazifisten, kirchliche Gruppen, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunisten und andere. Höhepunkte waren die beiden Großdemonstrationen in Bonn 1983 und 1984 mit hunderttausenden Teilnehmern.

Wo warst du aktiv?

Ich war immer auf dem Ostermarsch Ruhr-Westfalen dabei.

Wie hat dich das persönlich verändert?

Ich habe damals schon viel gelesen und diskutiert. Sehr bald wurde mir klar, dass Rüstungspolitik mit Krieg und Kapitalismus wie Zwillinge sind. Am Krieg lässt sich enorm viel verdienen. Am Frieden nicht. Später, beim Studium, habe ich mein Wissen fundierter ausbauen können.

Gab es an der Universität auch Friedensbewegte?

Ja klar, sehr viele. Für mich wurde in Paderborn Arno Klönne zum wichtigsten Vorbild. Er war in den 1960er Jahren Sprecher der Ostermärsche. Arno Klönne war Links-Sozialist, ein charismatischer Mensch mit einem Archiv im Kopf. Ein politischer Marathonläufer. Er hatte ein Faible für Oppositionsbewegungen, die häufig Außenseiter waren und auch noch sind. So wurde er bald mein wichtigster akademischer Lehrer, dann auch mein Doktorvater und bester Freund.

In welchen linken Bewegungen warst du nach der Ostermarschbewegung?

Ich war fast zwei Jahre kommunalpolitisch aktiv. In Ahlen, einer Bergarbeiterstadt. Das Milieu hat mir gut gefallen. Die Menschen sind offen, direkt, herzlich und halten zusammen. Das bringt ihre Arbeit unter Tage mit sich. Da muss man sich aufeinander verlassen können.

Was hast du für diese Menschen verändern können?

Wir haben für die ‚kleinen Leute‘ Einkellerungskartoffeln billig verkauft, vor Weihnachten dann preiswerte Tannenbäume. Und wir sind mit den Kindern für wenig Geld ins Zeltlager an die Ostsee gefahren. Manchmal habe ich auch Buswartehäuschen repariert und Zebrastreifen auf die Straße gemalt. In einer Nacht- und Nebelaktion haben wir eine stillgelegte Fabrik besetzt und ein Jugendzentrum eingerichtet. Das gibt es heute noch.

Welche Erlebnisse haben dich dort besonders geprägt?

Ich fühlte mich wie in einer großen Familie. Da ich selbst aus einer Arbeiterfamilie mit vielen Kindern komme und mich hocharbeiten musste, brauchte ich darüber nicht viel zu reden. Sie kannten das alle selbst. Sie haben ein Bewusstsein davon, auch ein Gefühl, zu welcher Gruppe der Gesellschaft sie gehören. Echtes Klassenbewusstsein – man konnte es mit Händen greifen.

Und wie zeigte sich dieses Klassenbewusstsein?

Es gab unwahrscheinlich viel Solidarität und Unterstützung untereinander. Jeder war in der Gewerkschaft, viele waren Vertrauensleute und Betriebsräte. Imponierende, starke Persönlichkeiten. Ihr Wort hatte großes Gewicht. Manche konnten nicht richtig schreiben und auch nicht so gut reden. Die wenigen Akademiker haben dann die Kindergeldanträge ausgefüllt und die Sozialberatung gemacht. Und sie hatten alle einen Traum: ein besseres Leben, vor allem für ihre Kinder.

Was zeichnet für dich eine linke Politik aus?

Linke Politik ist für mich in erster Linie Friedenspolitik. Also: Abrüstung, runter mit den Rüstungsausgaben. Weg mit den Waffen, das brauchen wir alles nicht. Und friedliche Koexistenz als Lehre aus den Weltkriegen. Dann ist auch Geld für sozialen Leistungen für die Menschen da, die durch ihre Arbeit die Werte schaffen.

Wie würdest du dieses Geld ausgeben?

Ich würde mich für Gleichheit in unserer Gesellschaft einzusetzen. Also Solidarität leben und mich gegen die Zumutungen wehren. Ich würde nicht nur rumreden, sondern mit dem Geld auch ganz praktisch was für die Schwachen tun. Wir brauchen preiswerte Wohnungen, Lebensmittel, Bildung für alle, ausreichende Renten und mehr.

Wie sind deine eigenen Erfahrungen mit linken Bewegungen?

Linke denken für mich am konsequentesten, gehen an die Wurzeln der Übel. Sie sind dann automatisch antikapitalistisch. Das geht gar nicht anders. Wie aber eine bessere Zukunft grundsätzlich aussehen kann, darüber waren und sind sie sich oft nicht einig. Das führt dazu, dass sie häufig erstmal Grundsatzdebatten führen. Die sind wichtig, damit die Analyse der Lage stimmt. Sonst stimmen auch die Schlussfolgerungen nicht. Das ist die Stärke aller linken Bewegungen.

Und was ist ihre Schwäche?

Sie sind manchmal abgehoben und verlieren das eigentliche Ziel darüber aus den Augen. Sie neigen aber auch dazu, ihre ‚Heldentaten‘ zu verherrlichen und überschätzen dann ihre tatsächliche Bedeutung. Das führt zum Sektierertum, ist aber ein allzu menschlicher Zug. Mir hat mal ein alter Kommunist gesagt: ‚Am Helm eines alten Genossen sind viele Beulen. Manche sind auch vom Gegner.‘ Auch eine Wahrheit.

Was ist denn eigentlich das Ziel?

Eine wirklich befreite Gesellschaft, in der es gelingt, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Das ist der kategorische Imperativ.

Wie erklärst du dir die häufig auftretenden Spannungen zwischen linken Gruppierungen?

Historisch betrachten sich Linke immer als die Erben von Marx, Engels, Luxemburg und anderen wichtigen Vordenkern. Die Linke in Deutschland hat sich 1918 an der Friedensfrage gespalten. Die alte Bebel-SPD wurde danach zum Helfershelfer der Mächtigen durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten vor dem Ersten Weltkrieg. Es entstand dann die Linksabspaltung: erst der Spartakusbund, dann die KPD. Neue Zellteilungen folgten. Die SPD hat sich bis heute immer als Handlanger hingegeben und ihre ursprüngliche historische Bedeutung als sozialistische Partei schon lange vollständig verloren. Übrig bleibt eine Erbengemeinschaft.

Wodurch kommt es heute immer noch zur Spaltung?

Heute streiten sich die Nachfolger, wer denn nun der ‚wahre Erbe‘ ist und was das alles für die Gegenwart und Zukunft bedeutet. Da gab es die Länder des realen Sozialismus, die Sowjetunion und die DDR vor allem. Auch China. Der nächste Knackpunkt. Ob man fast alles, nur wenig oder nichts dort gut fand – da trennten sich wieder die Geister. Eine Rolle spielte auch die Frage, wie man denn nun an die Staatsmacht kommt: durch Wahlen, durch außerparlamentarischen Kampf oder durch eine Mischform. Aktuell ist eine sozialistische Linke eine kleine Minderheit.

Wie blickst du auf die Linkspartei?

Für mich ist die Linkspartei heute weitgehend ein Etikettenschwindel. Sie hat die kleinen Leute draußen so gut wie vergessen. Für die materiellen Nöte der arbeitenden Menschen und ihre Lebenswelt interessieren sich viele Linke schon lange nicht mehr, sondern sie sind mit Lifestyle- und Randthemen beschäftigt. Die Parteilinke klärt schon seit Jahren keine gesellschaftlichen Grundfragen mehr. Das ist ihr eigentliches Problem. Die Partei von Rosa Luxemburg ist das jedenfalls schon lange nicht mehr.

Und wie schätzt du die Erfolgsaussichten vom Bündnis Sarah Wagenknecht ein?

Sarah Wagenknecht ist eine gebildete Frau und erfahrene Politikerin; immerhin bei Fritz Helmedag promoviert. Und sie ist auch eine Hoffnungsträgerin für viele. Vor allem in den neuen Bundesländern. Für mich ist das Bündnis eher eine Art linkskonservative Sammlungspartei. Irgendwo zwischen USPD 2.0 und Ludwig Erhard – mehr bei Ludwig Erhard. Als Linke stehen sie windschief in der politischen Landschaft.

Wo siehst du die Schwächen des Bündnisses?

Es gehört mit den Führungspersonen zum politischen Establishment. Die Oppositionsbewegungen der letzten Jahre kommen dort ja gar nicht vor. Und das bisherige Programm ist weit unter Wagenknechts intellektuellem Niveau. Für mich fehlen zentrale Themen, wie etwa die Rolle der NATO.

Mal weg von der Parteipolitik: Wie erklärst du dir das vollständige Versagen der Linken während der Corona-Zeit?

Sie haben die eigentlichen Ziele der Maßnahmen nicht erkannt. Mittlerweile ist ja alles öffentlich geworden. Sie haben es als gesundheitlichen Notstand begriffen und nicht als politischen. Das meine ich mit der Unklarheit über politische Grundfragen. Dass eine Christine Andersen von der AfD im EU-Parlament engagiert dagegen kämpft, nicht aber die Linken, ist ein Desaster. Von denen müsste man es gerade erwarten. Bei den ‚Impfabstimmungen‘ im Bundestag sind führende Funktionäre entweder gar nicht da gewesen oder waren auf Regierungskurs. Sie sind für mich nicht glaubwürdig.

Wo siehst du die Unterschiede zwischen den Linken, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gegangen sind, und der Antifa, die sich selbst ebenfalls als Linke bezeichnet?

Die sogenannte Antifa ist natürlich nicht ‚antifaschistisch‘. Und schon überhaupt nicht links. Sie ist mehr ein Hilfstrupp der Machthaber. Eigentlich sind sie nur Marionetten, wie viele andere auch. Die Fäden ziehen andere.

Wie würde eine linke Bewegung aussehen, die du heute gründen würdest?

Eine linke Bewegung kann man nicht gründen, sie entsteht aus den Widersprüchen der Gesellschaft selbst. Als Partei wäre sie eindeutig eine Anti-Kriegspartei ohne Wenn und Aber. Antikapitalistisch, mit modernen öko- sozialistischen Zielen, die zum 21. Jahrhundert passen. Auch mit einer Marktwirtschaft. Basisdemokratie ist entscheidend und unbedingte Transparenz. Und natürlich soziale Gerechtigkeit auf breiter Basis. Da haben die regierenden linken Parteien des Ostens schwere Fehler gemacht. Offensichtlich müssen die Grundlagen linker Theorie und Politik rekonstruiert und auf die heutigen Verhältnisse hin ausgerichtet, also modernisiert werden. Eine hoffentlich richtige Analyse ist hier das A und O. Und dann versuchen und ausprobieren, was geht. Eine Blaupause gibt’s da nicht. Dann findet hoffentlich wieder zusammen, was zusammengehört. Wäre schön.

Ulrich Gausmann ist Autor des Buchs Wirtschaft und Finanzen neu gedacht.

Das Interview ist im Wortsinn ein Produkt der Freien Akademie für Medien & Journalismus. Beide Gesprächspartner saßen in einem Kurs, in dem diese Textform trainiert wurde.

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Bildquellen: Wolfsrib auf Pixabay