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Oben & Unten | 19.03.2025
Zeit ohne Geist
Wenn wir nur das denken und tun sollen, was in die Zeit passt, dann ist offenbar das Ende der Geschichte erreicht.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Die Wahl zur Miss World in den Niederlanden wurde abgesagt, weil sie nicht mehr zeitgemäß sei. Auch handgeschriebene Weihnachtskarten, so hörte ich neulich, passten nicht mehr in die Zeit. Eine Google-Suche liefert tausende Beispiele für all das, was nicht mehr in die Zeit passt: männliche Kanzlerkandidaten, Schuldenbremse, Karnevalsumzüge, Winnetou. Auch nicht, dass der Tennisspieler Alexander Zverev oberkörperfrei auf einer Party tanzte. Zwei Professoren verfassten einen Aufsatz mit dem Titel „Menschen an der Haustür unvorbereitet anzusprechen und einen Staubsauger verkaufen zu wollen, passt nicht mehr in unsere Zeit“. Natürlich geht es nicht immer so lustig zu. In der Münchner Ausstellung Verbotene Bücher“, in der die Zensur vergangener Zeiten angeprangert wurde, forderte man für heute eine Art Selbstzensur: „Eine Sensibilisierung dafür, dass bestimmte Darstellungen unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr entsprechen, könnte ein Gewinn für alle sein.“

Gerade nach Wahlniederlagen hört man öfter eine Entschuldigung, die eher wie eine Drohung klingt: „Wir müssen die Menschen abholen und mitnehmen.“ Offenbar besitzen hier Leute einen Fahrplan, wie genau die Zeiten ablaufen und was jeweils in welche Zeit gehört. Mit diesem Geheimwissen ausgestattet rufen sie uns Dummerchen zur Ordnung, wenn wir auf dem falschen Bahnsteig stehen.

Alle Auffassungen, dass etwas nicht in die Zeit passt, setzen das Ideal der Einheitlichkeit voraus. In den Worten des Historikers Hans Martin Klinkenberg (1921 bis 2002): „Sie fassen Kultur als eine innere Einheit auf, und sie versuchen, sie an einem einheitlichen Lebensprinzip festzumachen, dem jeder einzelne Kulturteilnehmer ohne Möglichkeit, daraus auszubrechen, unterworfen ist. Diese Kulturbegriffe sind insofern unhistorisch, als ihre postulierte innere Einheitlichkeit keinen inneren Widerspruch erlaubt, wie Organe nicht im Widerspruch zum Ganzen und untereinander stehen können, ferner unhistorisch, als die verschiedenen Kulturelemente ja nicht aus einer Zeit, ja nicht einmal aus einer einzigen Kultur stammen müssen. Die Kulturbegriffe beziehen am Ende auch das Individuum mit seiner Unverwechselbarkeit nicht ein. Sie tendieren alle zum Kollektivismus, in dem die Individuen gleich und gleichgültig werden und alle unausweichlich einem überindividuellen Prozess unterliegen.“

Tatsächlich entstand vieles, was wir heute richtig finden und genießen, aus Dingen, die wir wahrscheinlich nicht mehr goutieren. Die staatsanwaltliche Strafverfolgung im öffentlichen Interesse aus der Inquisition. Oder der Föderalismus aus der Gleichschaltung der Länder und der Zerschlagung Preußens durch Hitler und die Alliierten. Vor allem besteht jede Innovation per Definition darin, etwas zu denken, etwas zu versuchen, etwas zu verwirklichen, was nicht der Zeit entspricht. Sich für Demokratie einzusetzen, passte nicht in die Zeit der Monarchie. Die Eisenbahn nicht in die Zeit der Postkutschen. Die Idee der Schwulenbefreiung nicht in die Zeit des Paragrafen 175.

Wer die Offenheit der Zukunft nicht erträgt, muss folgerichtig alle Irritationen beseitigen, die aus der Vergangenheit stammen. Er dürfte aber auch nicht tolerieren, dass heute zur gleichen Zeit im eigenen Land oder irgendwo in der Welt abweichende Weltsichten existieren. Und er dürfte schon gar nicht zulassen, dass in unserem zeitgeistigen Schoß neue Weltsichten entstehen, die eines Tages kritisch auf unsere Zeit und unseren Zeitgeist blicken werden. Wenn es nichts mehr geben darf, was nicht der heutigen Gesellschaft entspricht, ist offenbar das Ende der Geschichte erreicht.

Es ist witzig, wenn sich ein Konzept von Kultur und Geschichte, das kein Fortschreiten mehr erlaubt, mit dem Etikett der Fortschrittlichkeit schmücken will. Es ist ebenso witzig, wenn eine jeder Vielfalt entgegengesetzten Haltung unter der Fahne der Vielfalt antritt. Die Behauptung, dass etwas nicht in die Zeit passe, ist die traurigste und deprimierendste Form der Diskursverweigerung. Sie dient als Ersatz für sachliche Auseinandersetzung und inhaltliche Überzeugungsarbeit. Sie ist das letzte Aufgebot, sozusagen eine Art Volkssturm, um doch noch den Endsieg zu erringen. Allerdings ein Volkssturm ohne Volk. Denn die Frage ist, ob der postulierte Zeitgeist wirklich der Geist einer Zeit ist. Wenn Grüne und SPD in der Wählergunst abstürzen, die AfD aber in manchen Bundesländern stärkste Partei ist, wer repräsentiert dann den Zeitgeist und wer ist abgehängt und aus der Zeit gefallen? Und dürfen dann Grüne und SPD eigentlich noch zu ihren Positionen stehen oder müssten sie sich in der Zeitpassungslogik nicht auflösen?

Es wird Zeit, den Diskurs mit Andersdenkenden wieder zu erlernen. Wir sollten aufhören, Leute, die sich dem Diskurs verweigern, als moralische Autoritäten anzuerkennen. Wer droht, er komme nicht, falls der und der komme, dem sollten wir antworten: Dann bleib halt weg. Vielleicht sollten wir nur noch Umstrittene fördern, denn wer nur äußert, was sowieso schon jeder meint, bringt uns nicht weiter.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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Bildquellen: Franck Barske @Pixabay