„Erinnerungen eines Skeptikers“, lautet der Untertitel dieses Buches. Herles führt den Leser durch sein Berufsleben, beginnt aber mit den 1950er Jahren und seinem Familienleben als Kind in Niederbayern. Es folgen Szenen, deren Zeuge oder Protagonist er als Journalist, politischer Berichterstatter aus allen Ecken der Erde und später als Moderator des Kulturmagazins aspekte wurde. Er stellt seine Bücher vor, politische Sachbücher und Romane, und ihre Verwobenheit mit der jeweiligen Zeitgeschichte. Ohne Namedropping ist dieser Parforceritt durch die jüngste deutsche Geschichte nicht zu haben.
Eine solche Erzählung bundesdeutscher Geschichte – insbesondere der Mediengeschichte – kann interessant sein, gerade auch für Ostdeutsche, die sich seit mehr als dreißig Jahren ihrer Vergangenheit versichern und ihre Sicht auf das Leben in der DDR zu vermitteln suchen. Sie können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, sich verständlich zu machen und Vorurteile auf der Seite der Zuhörer in realistische, nachvollziehbare Geschichten zu verwandeln. Mit Herles ist es umgekehrt: Er ist so westdeutsch in seiner Darstellung seines westdeutschen Lebens, daß es schwerfällt, geistig am Ball zu bleiben.
Sprechen Ostdeutsche über ihre Vergangenheit, erklären und rechtfertigen sie sich. Westdeutsche hingegen berichten voller Stolz und Selbstgerechtigkeit von ihren bedeutenden Rollen in der Bonner Republik. Sie hatten bis zur Vereinigung (und viele noch lange danach) keine Ahnung vom Leben in der DDR. Sie haben deren Medien nicht wahrgenommen, kaum auch ihre gesellschaftskritische Literatur. Ostdeutsche hingegen konsumierten nahezu überall im Land das Westfernsehen, sowohl die Unterhaltungs- als auch die politischen Sendungen und die Produktwerbung. Auf diese Weise wußten sie einerseits recht gut Bescheid über ihre deutschen Nachbarn und hatten andererseits ein unrealistisches, geschöntes Bild von ihrer Lebensweise und der gesellschaftlichen Atmosphäre.
Gewiß: Man erfährt eine Menge über den deutschen Medienbetrieb. Wie zuvor sein ostdeutsches Pendant Alexander Teske bemängelt Herles politische Einflußnahme und mangelnde Meinungsvielfalt in den Redaktionen. Aber wenn er sich immer wieder als einzigen skeptischen und kritischen Geist in einem Meer von Opportunisten darstellt, der aus diesem Grund ständig kurz vor der Entlassung gestanden habe, dann meint man, die typischen Memoiren eines bundesdeutschen Promis zu lesen. Nicht daß Herles vollkommen unkritisch gegen sich selbst wäre. Er meint heute, die Medien, auch er, hätten nicht genügend insistiert bei ihren Fragen an Politiker, zum Beispiel bei dem Thema Grüne Partei und Gewalt oder bei der Ambivalenz Helmut Kohls gegenüber Gorbatschow. Aber von einem Intellektuellen seines Ranges hatte sich die Rezensentin ein bißchen mehr Tiefgründigkeit, mehr Distanz und Analyse gewünscht. Was der Leser vorfindet, ist eine Menge empirisches Material bei geringfügiger geistiger Durchdringung seines (Lebens-)Stoffes. Weiß er es nicht besser? Oder rechnete er mit besseren Verkaufszahlen, wenn er es beim munterem Erzählen beläßt?
So ist der Erkenntniswert für Leser mit einem kritischen Verhältnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk gering. Im Grunde liegt er bereits im Buchtitel: Gemütlich war es auch in der alten BRD nicht. Die Verteidigung des Journalismus in der Bonner Republik, wie sie von Medienschaffenden im alternativen Milieu immer wieder erfolgt, sei nicht gerechtfertigt. Herles zeigt (erneut), daß alle heutigen Probleme mit der Qualität der Beiträge und der Neutralität der Berichterstatter in nuce von Beginn an vorhanden waren.
Alle heute das Land beschwerenden Herausforderungen sind damals schon erkennbar. Der Zeitgeist weht über die tiefen Veränderungen Deutschlands und der Welt kühn hinweg. Die Krisen von heute nähren sich von der Ignoranz von gestern. (218f.)
Dieter Stolte, Intendant des ZDF, erklärte seinen Redakteuren 1984: „Ich wünsche mir eine auf die liberale Mitte konzentrierte Pluralität.“ (108) Parteien bestimmten die Kultur des Journalismus von jeher. Die meisten Topjournalisten in der BRD wurden von einer Partei ins Spiel gebracht, erfuhr Herles, der „von außen“ kam. Es sei nie darum gegangen, Diskussionen zu führen, um Erkenntnisse zu gewinnen, jeder mit jedem, alle mit allen. Weder hinter der Kamera und in den Redaktionsstuben noch vor der Kamera in Interviews und Talkshows. Es sei schon frühzeitig der Proporz der Parteien gewesen, der Themen und Inhalte bestimmt habe. Persönliche Beziehungen von Journalisten und Politikern bzw. vice versa und die Einschaltquote hätten im Laufe der Zeit eine ständig wachsende Bedeutung erlangt – bis sie zur heutigen Lebensgemeinschaft von politischer und medialer Klasse heranwuchsen und in Billigunterhaltung mündeten.
Der Verfall der Fernsehkultur beschleunigt sich … Das Medium ist gefangen in einer Verseichtungsspirale. (288)
Selbst die von Herles hochgelobte Süddeutsche Zeitung, die einst „ein Hort des kritischen Geistes und der Unabhängigkeit“ (74) war und Herles das entscheidende Kriterium seines Berufes, die Skepsis, vermittelte, geht heute den Weg allen Fleisches.
Interessant ist Herles‘ journalistisches Credo und seine Umsetzung: Am 13. Oktober 1977 wurde die Lufthansa-Maschine „Landshut“ von Palma de Mallorca nach Frankfurt mit 91 Menschen an Bord von Vertretern der zweiten Generation der RAF gekapert. Das Kanzleramt verhängte eine Nachrichtensperre. Aber Herles hatte Informanten, in diesem Fall einen „Amateurfunker“ vom israelischen Geheimdienst.
Mich plagen keine Gewissensbisse. Die Wahrheit muß ans Licht. Die Regierung kann Informationssperren verhängen, aber Nachrichten nicht verbieten. (86)
Doch ein paar Zeilen weiter unten konstatiert er:
Medien beeinflussen das Geschehen; die Terroristen bekommen mit, dass die GSG 9 in Istanbul zwischengelandet ist. Ein Teil der Einheit muß nach Bonn zurückfliegen. (86)
Der Widerspruch scheint dem Journalisten nicht aufzufallen. Er konzediert, ohne sich auf diese Tragödie zu beziehen, ganz allgemein: „Dieser Beruf versaut. Er macht ruchlos und unerschrocken.“ (127) Doch Herles war und blieb ein Vollprofi und ließ keine Gelegenheit aus, das unter Beweis zu stellen. Um die Mittel und Wege der Informationsbeschaffung und -verbreitung machte er sich nur gelegentlich Gedanken und nur so viele, daß seine Tätigkeit nicht beeinträchtigt wurde. Wenn er sich ärgerte, dann allermeist über andere. Aber er weiß auch:
Das Fernsehen verstärkt, vergröbert, versimpelt und dramatisiert, das ist seine Natur. Meine Aufgabe ist es nicht, nett zu sein zu den Protagonisten der Parteien, die glauben, der Staat gehöre ihnen. (128)
Das klingt nach einem hohen Berufsethos und – im Buch immer wieder – nach Trotz. Sein Intendant mahnte 1987, das Lob der Kollegen sollte ihm weniger bedeuten als die Gesprächsbereitschaft der Politiker. Ihm wurde ein spöttischer und damit despektierlicher Umgang mit Regierenden vorgeworfen. Doch er verstand seine freche Tonart als Grund für steigende Einschaltquoten von Bonn direkt. Und er machte die Erfahrung, daß bei Politikern der gleiche Charaktermangel verbreitet ist wie bei den Journalisten: Es geht weniger um (kleinteilige) Sachfragen „als darum, wer was werden oder wer wann wie und warum abgesägt werden soll“. (132) Freie Meinungsäußerung und Diskurs leiden seiner Auffassung nach außerdem unter „der im Volk sich ausbreitenden Verachtung von Politik … Der brave Bürger hält Ruhe für wichtiger als Kompetenz und deshalb Streit nicht für das Wesen der Demokratie, sondern für ihre Schwäche“. (132) Politischer Streit unter Politikern gilt dem Publikum „als schlechtes Benehmen und nicht etwa als demokratische Verrichtung … Es legte ihn als Führungsschwäche der jeweiligen Vorsitzenden aus.“ (222)
Relativ viel Raum nimmt Herles‘ Abrechnung mit der deutschen Vereinigung ein. Mit Chefs und Kollegen war er überkreuz, da er die Einheit nicht um jeden Preis für wünschenswert hielt und dafür plädierte, Bonn als Hauptstadt zu erhalten. Eine Ausnahme unter den Journalisten war Talk-Showmaster Erich Böhme, der öffentlich bekannte: „Ich will nicht wiedervereinigt werden.“ (209) Daraufhin wurde er als Chefredakteur des Spiegel gefeuert. Im Juni 1991 traf es auch Herles. Das Kanzleramt hatte es so gewollt. „Dass der Mächtigste im Land mich nicht erträgt, fühlt sich gut an“, behauptet Herles. (183) 1991 mußte er erkennen:
Kritischer Journalismus über das, was sich in den neuen Bundesländern abspielt, ist nicht erwünscht, weil es vermeintlich dem Bekenntnis zur Wiedervereinigung widerspricht. Das ist offene Zensur, und darauf ist der Intendant auch später noch stolz. In seinen Erinnerungen (2012) heißt es: Herles stand als „erster Journalist des ZDF in Bonn im Widerspruch zur offiziellen Position des Hauses.“ Das bedeutet nichts anderes, als dass es eine offizielle Position gab, und das wiederum, dass das ZDF sich als Staatssender versteht. Damit ist die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien obsolet. Das Fernsehen der DDR wird abgewickelt, um den Brüdern und Schwestern beizubringen, was freier Journalismus ist. (173)
Herles‘ Verhältnis zur DDR und zur Vereinigung ist interessant und sicherlich keine Außenseitermeinung, sondern eher westdeutscher Mainstream. Er bekannte, die europäischen Nachbarn im Westen stünden ihm näher als das Volk in der DDR. „Mit den Menschen in Dresden und Halle fühle ich mich weniger verwandt als mit den Nachbarn in Zürich und Straßburg.“ (168) Er sei „ein Kind der Bonner Republik, ohne die geringsten Phantomschmerzen“ (157), und habe sich nur darüber gefreut, daß „der Riesenknast DDR keine Gitter mehr hat“. (151) Helmut Kohls Message im Wahlkampf, das Volk im Osten habe den Westdeutschen „die menschliche Substanz des Miteinanders“ (164) voraus, hält Herles für einen Irrglauben.
Gute Journalisten seien schon lange Mangelware, aber „die Spielräume des gesellschaftlichen Disputs werden vom Nationalrausch eingeschränkt.“ (168) Nicht nur die DDR werde abgewickelt, „sondern auch die Substanz der Bonner Republik aufgezehrt“. (186) Dabei hatte er zuvor behauptet: „Die goldenen Zeiten der Bonner Republik sind Ende der siebziger Jahre bereits vorbei.“ (84) Aber bedeutsamer war für ihn in dieser Zeit:
Das Grundgefühl der Geborgenheit erodiert. Seit der „Wiedervereinigung“ gerät das Land aus der Balance. Die regierenden Parteien der Mitte verspielen Vertrauen, versagen auf vielen Gebieten, versäumen notwendige Reformen, verfolgen sinnlose Transformationen. (185)
Herles befürchtete „die Abschaffung des ersten erfolgreichen demokratischen deutschen Staates“. (177) Und er beklagt: „Die jüngeren Deutschen lassen sich einreden, die Bonner Republik sei ein in jeder Hinsicht kleindeutsches, kleingeistiges Land gewesen.“ (114)
Sicherlich würde er dem Satz zustimmen, der der Rezensentin einst zu Ohren kam: Die Westdeutschen haben sich mit 17 Millionen Spießern vereinigt. Denn er meint, die Ostdeutschen hätten nicht begriffen, „dass Demokratie ein Kampf unterschiedlicher Interessen ist. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass frei nicht sorgenfrei bedeutet und Einheit nicht automatisch Wohlstand wie im Westen. Sie vertrauen beinahe blind den Versprechungen der Obrigkeit.“ (171f.) „Der Osten verspricht sich vom Staat fast alles – nur dass es dieser Staat nicht versprechen kann.“ Die Berliner Republik würde sich verändern, und zwar in keine wünschenswerte Richtung: „Mehr Zwang, mehr Staat, weniger Liberalität.“ (204)
Ein wenig Mitgefühl mit den neuen Landsleuten bringt der Bayer dann aber doch noch auf: „Dieselben Leute, die im Herbst 89 noch mutig gewesen waren, sind jetzt wieder verzagt. Wieder passen sie sich einer Ordnung an, die ihnen übergestülpt wird.“ (193) „Übrig bleiben die Fusion, der Aufkauf und der Ausverkauf der DDR.“ (170)
Und dann sieht er sogar noch eine Lernerfahrung, die nur die ostdeutschen Brüder und Schwestern haben können: „Viele Ostdeutsche reagieren weitaus empfindlicher auf die links-grüne Gesellschaftsformation und den übergriffigen Staat. Gelenkte Wirtschaft, betreute Demokratie, man muss ihnen nicht erklären, was das ist“, schränkt dann aber gleich wieder ein: „und zugleich wünschen sie sich straffe Führung, einen allzuständigen Staat, verstehen unter Demokratie eine Diktatur der Mehrheit statt Streit und die Fähigkeit zum Kompromiss.“ (301f.) In der Berliner Republik wurde es in den folgenden Jahren allerdings noch ungemütlicher, als der Autor erwartet hatte:
Skeptiker werden nun zu Gegnern erklärt. Wie gerade noch der Einheitsskeptiker zum Einheitsgegner, so bald der Impfskeptiker zum Impfgegner, der Skeptiker der Energiewende zum Klimaleugner, der Integrationsskeptiker zum Ausländerfeind, der EU-Skeptiker zum angeblich nationalistischen EU-Gegner. Der Abweichler ist ein Feindbild. Geschlossenheit ist Kult. Es herrscht eine in Deutschland wieder besonders ausgeprägte Form der Harmoniesucht im Dienste vermeintlich höherer Moral. Sie gilt als Fundament der Staatstreue. (186)
Die Bildungsmisere ist für Herles eine wesentliche Ursache der Krise der Demokratie.
Der Niedergang der Bildung ist wohl kein Zufall. Er ist Voraussetzung der großen Transformation. Das zeitgeistige, ökosozialistische Weltbild setzt Bürger voraus, die sich vom Ausstieg aus der Kernenergie über die Klimahysterie bis zu den Corona-Maßnahmen von einer politisierten Wissenschaft … einschüchtern lassen und ihr nichts entgegenzusetzen haben. Dahinter steckt politische Absicht. Wer leicht zu gängelnde, manipulierbare Bürger benötigt, darf ihr Urteilsvermögen nicht auch noch schärfen. Bildung – nicht nur Ausbildung – wäre Basis selbstbewussten Widerstands. (333f.)
Die Verflachung der gebührenfinanzierten Medien habe ihren Anteil an der Bildungskatastrophe. Die Leitmedien seien zum Pfarramt mutiert. „Die sogenannte Vierte Gewalt ist in den Mainstream abgetaucht. Emotionalisieren geht vor Reflektieren, die ‚richtige‘ Haltung zählt mehr als Distanz.“ Auch die neuen Medien ruinieren in Herles‘ Augen die Kommunikation. (353)
Er werde allmählich zum libertären Anarchisten, bekannte der politische Journalist 2020 im Angesicht des Merkelschen Virus-Regimes. „Nein, ich fühle mich nicht mehr wohl in diesem Polizeistaat.“ (368), vertraute er seinem Tagebuch an.
Ich wünsche mir einen Staat, der nicht länger bevormundet, der liefert, was die deutschen Rekordsteuerzahler von ihm verlangen dürfen: einen Staat, der funktioniert und dem sie vertrauen. Keinen Staat, der sie einengt und sich in das einmischt, was ihn nichts angeht. Keinen Staat, der sich als Instrument einer Kulturrevolution versteht, Moral mit Recht verwechselt und die Wohlfahrt seiner Bürger einer ominösen „Klimagerechtigkeit“ opfert – ein neues Wort für Klassenkampf. Keinen Staat, der „Demokratieförderung“ sagt und das Gegenteil meint. (380)
Ja, das wäre schön. Nur: Wer auf der Suche nach den Ursachen für diese gut dargestellte gesellschaftliche und journalistische Misere nur an der Oberfläche bleibt, kann sich eben auch nur aufs Wünschen verlegen. Lesenswert ist Wolfgang Herles‘ neues Buch dennoch, und sei es auch nur, um die radikale Betrachtung der Persönlichkeiten Kohl und Merkel und deren politischen Handelns nicht zu verpassen. Hier führen Respektlosigkeit und Distanz tatsächlich zu Erkenntnisgewinn.
Wolfgang Herles: Gemütlich war es nie. Erinnerungen eines Skeptikers. München: Langen Müller Verlag 2025, 392 Seiten, 25 Euro
Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Wenn Zeit ist, steht sie am Buch-Tresen.
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