456 und der Rest von heute. Diesen Satz hatten wir als Wehrpflichtige schon am ersten Tag des Wehrdienstes im Kopf. Und als es nur noch 150 Tage waren, besaßen wir ein Maßband, von dem wir jeden Tag demonstrativ einen Zentimeter abschnitten. Natürlich waren wir froh, als es vorbei war. Aber der Wehrdienst hat weder bei mir noch bei Bekannten traumatische Erinnerungen hinterlassen. Es war nichts Dramatisches, sondern einfach eine Phase, die man als junger Mann eben durchmachen musste. Ich habe die Bundeswehr nicht als besonders militärisch empfunden, schon gar nicht als militaristisch. Kein Unteroffizier oder Offizier erwartete von uns, dass wir die Bundeswehrzeit toll fanden. Niemand verlangte von uns martialische Bekenntnisse zu Vaterland, Uniformen oder zum Umgang mit Waffen.
Als prägende Erinnerung bleiben andere Dinge. Vom Elternhaus weg sein. 15 Monate lang den Tagesablauf mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Ansichten teilen. Ordnung und Sauberkeit halten, weil man sonst verrückt wird, wenn man mit sechs oder acht Personen in einem Zimmer wohnt. Dass man relativ viele Freiheiten hatte, aber an bestimmten Punkten eben präsent sein musste: Wer abends lange saufen kann, kann morgens auch früh aufstehen. Generell bin ich Anhänger eines Pflichtjahres für alle, auch für Frauen, am besten am anderen Ende der Republik. Davon könnte Wehrdienst eine Form sein. So könnten sich gesellschaftliche Schichten tatsächlich begegnen, statt nur abfällig übereinander zu reden. Sie alle könnten lernen, dass es reale Aufgaben gibt, die sich nicht durch Likes und Emojis erledigen lassen, sondern nur durch reales Anpacken.
Um gleich einen Mythos auszuräumen, der auch jetzt wieder kursiert: Wehrdienst und überhaupt Modernisierung der Bundeswehr werden nicht gemacht, weil die Rüstungsindustrie das so will. Natürlich freuen sich Rüstungsunternehmen über Aufträge wie jedes andere Unternehmen auch. Aber zum einen hat die Beschaffung von Ausrüstung nur einen begrenzten Anteil am Wehretat. Über viele Jahre waren das weniger als 20 Prozent, seit der sogenannten Zeitenwende sind es 30 Prozent. Zum anderen ist die Rüstungsindustrie eine kleine Branche mit geringem Erpressungspotential: Der Jahresumsatz der deutschen Rüstungsindustrie liegt bei rund zwölf Milliarden Euro. Der Jahresumsatz der deutschen Automobilindustrie beträgt dagegen rund 560 Milliarden Euro. Der größte deutsche Rüstungshersteller ist Airbus, aber auch hier beträgt der Anteil von „Defence and Space“ nur rund 20 Prozent des Konzernumsatzes. Und die viel größeren und profitableren zivilen Bereiche haben keinerlei Interesse an militärischen Konflikten oder Spannungen.
Nun mag das alles so sein, aber natürlich ist ein Wehrdienst keine Anstalt zur Erhöhung der Sozialkompetenz. Und auch nicht die „Schule der Nation“, wie es mal hieß. Braucht ein Land überhaupt eine Armee? Zur Beantwortung der Frage sollten wir auf der individuellen Ebene anfangen. Niklas Luhmann sagte: „Der andere Mensch hat originären Zugang zur Welt, könnte alles anders erleben als ich und kann mich daher radikal verunsichern.“ Er kann andere Deutungen, aber auch andere Interessen und Ziele haben als ich. Und wenn Menschen ihre Ziele realisieren wollen, kann es zu Konflikten kommen. Wer diesen Spannungsherd ausmerzen will, wer das Paradies des ewigen Friedens schon beim Konflikt der Absichten beginnen lassen will, der müsste fordern, dass alle Menschen einheitlich denken – oder platter ausgedrückt: dass alle so denken wie ich. Dasselbe kann man auf staatliche oder sonstige Gemeinschaften hochskalieren. Eine andere Gemeinschaft kann etwas anderes wollen als die Gemeinschaft, der wir selbst angehören.
Eine Armee dient zunächst nicht dazu, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern dazu, dass andere uns nicht ihren Willen aufzwingen. Erst wenn der andere weiß, dass der gewaltsame Weg für ihn teuer werden kann, ist er gezwungen, Lösung oder Interessenausgleich auf friedlichem Weg zu finden. Naiver Pazifismus beinhaltet entweder eine Entmündigung des anderen oder eine Einladung zur Gewalt. „Si vis pacem, para bellum“ – ich wüsste nicht, welche neuen Erkenntnisse diese uralte Erkenntnis der Menschheit hinfällig gemacht hätten. Wäre Putin in die Ukraine einmarschiert, wenn er gewusst hätte, was ihn das kosten wird?
In keiner Weise verstehe ich die Vorbehalte gegen die Wehrpflicht von der „linken“ Seite. Der Zusammenhang von Volksherrschaft und Waffendienst ist uralt. Die Volksversammlung war die Versammlung der bewaffneten Bürger, die ihre Entscheidungen unter Einsatz ihres Lebens verteidigen mussten. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war diese Einrichtung in Europa weitgehend verschüttet durch Ritter- und Söldnerheere. In der Freiheits- und Demokratiebewegung und erst recht in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts war die allgemeine Wehrpflicht oder gar die allgemeine Volksbewaffnung wie in der Schweiz eine wichtige Forderung.
Welche Regierung würde es wagen, die politische Freiheit anzutasten, wenn jeder Bürger ein Gewehr und fünfzig scharfe Patronen zu Hause liegen hat?
Dieser Satz stammt nicht von der „American Rifle Association“, sondern von Friedrich Engels. Ich persönlich brauche kein Gewehr bei mir zu Hause und auch nicht bei meinen Nachbarn, aber den Grundgedanken teile ich vollständig: Eine Demokratie muss auch wehrhaft sein. Deshalb sollte sie die „Macht, die aus den Gewehrläufen kommt“, nicht denen überlassen, die Spaß an Macht oder an Gewehrläufen haben. Ich hätte eher Angst vor einer materiellen und personellen Aufrüstung ohne Wehrpflicht. Mir wäre unwohl bei einer Armee, die Kodexe, Rituale, Dünkel und Korpsgeist oder gar ein „privilegium fori“ entwickelte und nicht mehr der Spiegel der Gesellschaft wäre. Das Unmilitaristische, das ich in meiner Wehrzeit erlebt habe, kam daher, dass der größte Teil der Soldaten nur da war, weil es Teil der staatsbürgerlichen Pflicht gewesen ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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