Bad Bevensen. Ein kleiner Kurort in Niedersachsen. Der große Veranstaltungsraum im Kurhaus war am 11. März zum Vortrag „Wohin im Alter?“ nur mäßig gefüllt. Doch eine Gruppe interessierter Senioren versammelte sich direkt vor Wolf-Peter Weinert. Der Referent, ein leidenschaftlicher Mediziner, arbeitete 35 Jahre als Hausarzt in eigener Praxis in Bad Bevensen. Er sagt, dass er seinen „dritten Lebensabschnitt“ rechtzeitig vorbereitet hat, aber weiterhin als Angestellter in der Hausarztpraxis seines Sohnes Matthis arbeitet. „Ich fühle mich privilegiert, auch nach meinem Renteneintritt weiterhin in meinem Traumberuf arbeiten zu können“, sagt Weinert. „Wenn auch nur noch in Teilzeit – damit mir genügend Raum für meine anderen Beschäftigungen bleibt.“ Dabei lächelt er.
Fragt man ältere Menschen, worauf es im Alter am meisten ankommt, erhält man häufig die Antwort: Gesundheit, Wohnen und Finanzen. Weinert möchte den Horizont seines Publikums erweitern und bietet dafür folgende Schlüsselbegriffe an:
Leichte Irritation im Saal. Weinert fragt, wer bei ihm schon einmal einen Vortrag zum Alter gehört habe. Etwa die Hälfte der Anwesenden hebt die Hand. Für die „Neuen“ erzählte er eine Geschichte aus seiner Studentenzeit und zeigt dafür zwei Fotos „aus dem letzten Jahrhundert“:
Der Raum war eng, doch die Gesichter strahlten. Vor dem Block stand ein VW-Käfer. Wolf-Peter Weinert:
Verdient mit vielen Nachtschichten in der Klinik. Doch meist mit trockenem Tank aufgrund der klammen Haushaltskasse. Die Mainstream-Glücksfaktoren waren definitiv nicht erfüllt. Kein (großzügiges) Wohnen und keine (geordneten) Finanzen. Aber wir waren gesund und glücklich. Warum sollte dies im Alter anders sein? Schreiben Sie auf das Foto Alters- oder Pflegeheim – und niemand, der das Studentenwohnheim nicht persönlich kennt, würde über das neue Label stolpern.
Die „dritte Lebensphase“ hat sich drastisch verändert – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Menschen leben nicht nur länger, sondern die Phase der Pflegebedürftigkeit hat sich auf dem Lebens-Zeitstrahl deutlich nach hinten verschoben. Wer heute in Rente geht, hat statistisch noch 13 bis 17 Jahre vor sich, und zwar nicht als verbleibende Gesamtlebenszeit, sondern als Lebensphase „ohne Arbeit und ohne Alter“, da die erhöhte Hilfsbedürftigkeit erst in den allerletzten Lebensjahren eintritt. Weinert veranschaulicht das mit einem Beispiel:
Wie würden Sie reagieren, wenn Sie Ihre Kinder nach dem Abitur fragen: Und – was hast du jetzt in den nächsten 13 bis 17 Jahren vor? Das weißt du noch nicht? Würden Sie sich mit dieser Antwort zufriedengeben? Genau in dieser Situation befinden sich viele Menschen, die sich vor Renteneintritt noch keinerlei Gedanken über die praktische Ausgestaltung ihres Alters gemacht haben.
Die Möglichkeiten, sich auch nach dem Renteneintritt aktiv am Leben zu beteiligen, sind vielfältig. „Soziale Kontakte stehen hier mit deutlichem Abstand an oberster Stelle“, sagt Weinert. „Kontakte helfen nicht nur gegen Einsamkeit und damit gegen Altersdemenz. Sie bieten auch eine wunderbare Gelegenheit, anderen zu helfen – verbunden mit der Aussicht, auch selbst Hilfe zu erhalten, wenn man sie in späteren Lebensjahren benötigt.“ Das Spektrum reiche dabei von Nachbarschaft und Freundeskreis bis zu örtlichen Vereinen. Weinert weiter:
Wenn man eine Generation mit rund 25 Jahren veranschlagt, haben Menschen in ihren 60ern nicht nur die Kinder unter sich, sondern häufig auch noch die eigenen Eltern über sich. Die Kinder-Generation ist nicht nur für punktuelle Unterstützungen in der Enkel-Betreuung dankbar, selbst über größere Entfernungen. Demgegenüber ist die Eltern-Generation dabei, in die eigene Unterstützungsnotwendigkeit hinein-zu-altern oder ist bereits pflegebedürftig.
Weinert startet dieses Thema mit zwei Saalumfragen: „Wo“ und „Wie“ möchten Sie wohnen, wenn sich bei Ihnen die eigene „Unterstützungs-Notwendigkeit“ abzeichnet? Da viele der Zuhörer in Bad Bevensen leben, bevorzugt die deutliche Mehrheit auch diese Gemeinde in der „unterstützungsbegleiteten letzten Altersphase“. Der klare Favorit auf die Frage zum „Wie“ ist das eigene Haus mit externer Unterstützung durch einen mobilen Pflegedienst.
Ein weiterer Trend im Saal: Nahezu niemand will im Fall der Fälle freiwillig in ein Alten- und Pflegeheim. Während in früheren Jahren der Wohnort der Kinder zur Pflegeunterstützung im Ranking noch recht hochstand, haben heute die Optionen „Egal wo, Hauptsache die Leute stimmen“ und „betreutes Wohnen“ sowie „Wohngemeinschaft“ deutlich zugelegt. Weinert: „Ein deutliches Zeichen für den Bewusstseinswandel zum Thema.“
Zum Abschluss bat der Arzt seine Zuhörer noch um ein letztes Stimmungsbild. Die sieben zur Wahl stehenden Begriffe waren ein Mix aus Klassikern wie Gesundheit, Wohnsituation und Finanzen einerseits und Weinerts alternativen „Glücks-Parametern“ wie Stimmung, soziale Gemeinschaft, Bewegung/Sport und Pflichten andererseits. Klare Gewinner: soziale Gemeinschaft, Stimmung sowie Sport/Bewegung. Verlierer des Abends: Finanzen. Weinerts Reaktion: „War ich das?“ Eine mögliche Antwort, die im Saal schwebte: Ja. Nach dem Motto: Geld hilft, ist aber nicht alles – ohne ein soziales, lebensbejahendes Miteinander ist alles nichts.
Der Aufbau von regionalen Vernetzungs- und Unterstützungsgemeinschaften kostet Mühe und braucht Zeit. Weinerts klare Empfehlung: „Mit dem neuen Bewusstsein ins Handeln kommen.“ Am 11. November ist er wieder im Kurhaus – Karnevalsbeginn. Mehr Zuversicht und Frohsinn geht nicht.
Klaus Pluskota arbeitet als Fachjournalist, Mediator und Rechtsanwalt. Sein aktueller Schwerpunkt liegt in der Beratung und Begleitung regionaler Gemeinwohlinitiativen in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Energiewende-Dörfer und Vermögensschutz.
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