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Meyen am Tresen | 15.09.2025
Waldgespräche: Bilanz
Vier Interviewabende mit Kameras und Publikum: Jürgen Fliege, Joana Cotar, Gerd Reuther und Gabriele Gysi sorgen für eine wunderbare Premierenwoche.
Text: Michael Meyen
 
 

Am Ende war es wie bei einem Festival. Gabriele Gysi, die letzte Band, rauschte aus dem Auto in den Saal und bekam gleich so viel Beifall, dass sie sich verbeugen musste – ohne ein Wort gesagt zu haben. So eine Künstlerin, seit Jahrzehnten zu Hause auf den Bühnen dieses Landes, macht aus jedem Auftritt eine Show – selbst mit der Handtasche auf der Schulter und fernab jeder Garderobe.

Wir waren spät dran. Am Vortag ein Unfall in Berlin, dann die lange Fahrt im Leihwagen an den Rand der deutschen Welt, dazu ein leichtes Missverständnis in Sachen Zeitplan. Egal. Annie, die Freundin, die an diesem Tag am Einlass saß, hatte längst einen Plan B. Ein Stück vorlesen aus dem Gysi-Buch. Irgendwann werden die beiden schon kommen. Sie kamen dann Punkt 18 Uhr, als alle gerade auf ihren Plätzen saßen. Der Rest hat längst einen festen Platz im kollektiven Waldgedächtnis.

Bildbeschreibung

Ich hatte ein wenig Bammel vor dem Gespräch mit Gabriele Gysi. Der vierte Abend – für mich und auch für einen Teil des Publikums. Annie zum Beispiel stand mit ihrem Wohnmobil auf dem Parkplatz vor der Gaststätte. Sie war dabei, als Jürgen Fliege am Montag alle Lichter löschen ließ, um mit den Zuschauern zu singen. Der Mond ist aufgegangen. Gänsehaut. Und draußen tatsächlich ein Fast-noch-Vollmond über den Bäumen. „Mein Meister ist bespuckt worden“, hatte Fliege im Interview gesagt. Also werde er immer da sein, wenn jemand bespuckt wird. Bei Corona und überhaupt. Sein TV-Talk ist vor genau 20 Jahren abgesetzt worden. Die Leute erkennen ihn immer noch. Genauer: die Frauen. Unsere Nachbarin am Fenster, die Wirtin im Saal. Jürgen weiß das und nimmt die Menschen in den Arm. Im Scheinwerferlicht haben wir auch darüber gesprochen, was das macht mit dem, der anderen ins Herz schauen kann, weil er sein eigenes öffnet.

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Im Bett dachte ich: Mehr geht nicht. Dann kam Joana Cotar, dann kamen die Reuthers. Ganz anders, aber genauso gut. Den Leuten auf dem Sofa eine Stimme geben, sagte Joana, die siebeneinhalb Jahre im Bundestag saß und jetzt von draußen weitermacht, mindestens bis 2029 noch. Ich erzähle hier nicht, was es mit dieser Deadline auf sich hat und was sie tun will, wenn der Erfolg ausbleibt. Ein bisschen Spannung muss schon bleiben für das Video. Bei Gerd Reuther steht schon der Name für den Trommelwirbel. In Kurzform: Vergessen Sie alles, was Sie über das alte Griechenland zu wissen glauben, über die Römer und über den Teutoburger Wald. Fake Past, sagt Reuther, um uns in Schach zu halten.

Bildbeschreibung

Gabriele Gysi lebt, denkt, leidet in der deutschen Gegenwart, obwohl sie einen Familienrucksack voller europäischer Geschichte trägt und immer und überall zur Schauspielerin wird – auch vor der Kamera. Sie habe sich fallen lassen können, gestand sie mir hinterher, weil sie sich sicher war, dass ich uns ins Ziel führen werde. Der Interviewer als Regisseur. Peter, der wie Annie alle vier Abende da war und in jeder Hinsicht weit weg ist von der DDR und Ostdeutschland, sagte, das ihn das berührt habe – mehr noch als bei den anderen drei Gesprächen. Ich vermute: Jürgen Fliege, Joana Cotar und Gerd Reuther haben dafür genauso den Boden bereitet wie die anderen Gäste im Saal.

Jenseits von Emotionen und Inhalten: gut 240 Besucher an vier Abenden. Vier gut gefüllte Spendenboxen. Die Kosten sind zwar nicht ganz wieder hineingekommen, aber darum ging es nie. Vor einer Woche dachte ich: Was tun wir uns da an? Warum muss der Journalist und Forscher auch noch zum Veranstalter werden? Heute steht so gut wie fest: Es wird eine Neuauflage geben.

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