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Welt-Tresen: MV | 25.03.2025
Stornowelle an der See?
Kampagne oder Luftballon: Was steckt hinter den Berichten über Urlauber, die nach den Wahlen nicht mehr nach MV fahren wollen?
Text: Mirko Jähnert
 
 

In der letzten Februarwoche waren meine Frau und ich für ein paar Tage auf Rügen. Wir sind jedes Jahr um diese Zeit dort. Es ist ein schöner Ort, um dem Alltagsstress zu entkommen und wieder aufzutanken. Wir waren in Göhren. Dort treffen zwei Welten der Ostsee aufeinander. Auf der einen Seite breiter Sandstrand mit Blick auf die Unendlichkeit des Meeres. Urlauber schlendern hier auf der Promenade und genießen die Aussicht bei einer Tasse Kaffee. Jogger laufen am Wasser. Auf der anderen Seite eine raue, naturgeformte Steilküste. Der steinige Abschnitt zieht Bernsteinsucher und Outdoor-Wanderer an. Das Wetter ist neblig. Im Februar ist es hier ruhig, anders als im Sommer.

Glaubt man den Berichten der Bild-Zeitung, soll es künftig das ganze Jahr ruhiger sein. Eine Storno-Welle nach dem Wahlergebnis der AfD in MV. Zweifel sind kaum möglich. Die Bild-Zeitung sagt: Der Dehoga-Landeschef (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) bestätigt. Und die Ostsee-Zeitung hat auch schon berichtet. Wenn Bild so etwas noch aufbläst, schlägt das Wellen – sprichwörtlich. Im Netz und auf den Plattformen. Auch der Nordkurier berichtet und zitiert dann ebenfalls den Dehoga-Mann. Dieser traute anscheinend seinen Augen nicht, als er lesen musste, was er gesagt haben soll. „Es gibt keine Stornowelle“, gibt er zwei Tage später im Nordkurier zu Protokoll. Die Bild-Redaktion hatte ihn offenbar erst nach Erscheinen des Artikels kontaktiert. Der Berliner Tagesspiegel schlägt dagegen in die gleiche Kerbe. Dutzende Leser haben angeblich berichtet, künftig auf Ferien in AfD-Regionen zu verzichten.

Bei solchen Meldungen lohnt es sich auf jeden Fall, selbst zu recherchieren. Wenn es Stornierungen geben würde, müssten sich das auch in anderen Regionen des Bundeslandes bemerkbar machen. Marco Messner betreibt das Hotel Sankt Georg in Neubrandenburg. Gleichzeitig ist er Regionalvorsitzender der Dehoga in der Vier-Tore-Stadt. „Bei uns und den Anbietern in der Umgebung gab es nicht eine einzige Stornierung“, sagt Messner. „Es ist jedes Mal dasselbe. Solche Berichte gab es früher auch schon.“ Messner kann sich durchaus vorstellen, dass entsprechende Meldungen aus anderen Bundesgebieten lanciert werden, um den Wirtschaftsfaktor Tourismus in MV zu treffen. „Schleswig-Holstein ist ein direkter Konkurrent.“

Die Mecklenburgische Seenplatte ist neben der Ostsee ein weiterer Magnet für Touristen. Hier hat die AfD teilweise über 50 Prozent der Stimmen erhalten. Deswegen frage ich beim Tourismusverband nach. Die Presseverantwortliche Christin Drühl antwortet mit einer netten Mail. Fehlanzeige, auch hier keine Stornierungen. Ganze sechs E-Mails unmittelbar nach der Wahl zu diesem Thema. Es gab sie also nicht, die Stornowelle. Nicht hier, nicht an der Ostsee, nur in der Bild-Zeitung.

Maximal gab es ein bisschen Aufregung von Menschen, die sich über die Gründe für das Abstimmungsergebnis keine Gedanken machen. Mir fällt da eine Geschichte ein, die mir ein Hotelangestellter auf Rügen erzählte. Ein Gast, der ein Zimmer mit Meerblick gebucht hatte, beschwerte sich, dass er wegen des Nebels das Meer nicht sehen konnte. Da war er wieder, dieser Charakter – einer von denen, die glauben, sie hätten den Ostdeutschen 1990 die Demokratie gebracht. Dabei war es der Kapitalismus. Mit all seinen Vorteilen, keine Frage. Nur über Nebenwirkungen wurde schon damals nicht gesprochen. Neben Gewinnern gab und gibt es auch jede Menge Verlierer, gerade im Osten. Heute noch.

Einer dieser Verlierer ist der Rüganer, der jetzt ein LNG-Terminal vor der Haustür hat, weil Politiker aus dem Westen mit Russland ein Problem haben. Es ist der Ostdeutsche, den steigende Energiekosten stärker treffen, weil seine Haushaltskasse kleiner ist und das Loch damit größer. Anstatt sich zu echauffieren über das Wahlergebnis, gilt es, die Ursachen zu hinterfragen. Neben wirtschaftlichen Gründen ganz vorn: ein Vertrauensverlust in gigantischem Ausmaß. Von Merkel („Wir schaffen das“) über Scholz („Wir wollen keine Impfpflicht“) und die Grünen (Wahlslogan: „Keine Waffen in Kriegsgebiete“) bis zu Merz („Die Schuldenbremse wird nicht angetastet“): Das Täuschen und Belügen der Bevölkerung hat ein Maß erreicht, das an Schamlosigkeit kaum zu überbieten ist. Das Wahlergebnis im Osten ist daher eher Notwehr als politische Überzeugung.

Ob sich der Rheinländer darüber Gedanken macht, wenn er die aufwändig renovierten Villen am Ostseestrand sieht? Ob er weiß, dass er seinen Cappuccino für Mindestlohn serviert bekommt? Ist ihm bewusst, dass die Menschen, die vom Tourismus leben, auch im Winter Familien zu versorgen haben? Häufig greifen Hotels und Restaurants daher auf ausländische Saisonkräfte und Auszubildende zurück. „Die tägliche Zusammenarbeit sei gelebte Integration“, sagt auch Dehoga-Chef Lars Schwarz.

Bildbeschreibung

Mirko Jähnert hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht. Er lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern.

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Bildquellen: Göhren auf Rügen - von oben und am Strand. Fotos: Antje Meyen und Mirko Jähnert