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Buch-Tresen | 17.04.2025
Stoff für Netflix
Raymond Unger lässt in seinem Roman nichts aus und kann so eine Antwort liefern auf die Apokalypse, die nicht nur für ihn längst da ist.
Text: Michael Meyen
 
 

Hölderlin taugt immer. Diesmal sogar doppelt. Dass mit der Gefahr das Rettende wächst, hat sich inzwischen herumgesprochen. Raymond Unger ist so ein Anker. Wann immer ich seinen Namen bei einer Veranstaltung erwähne: Die Leute wissen Bescheid. Vom Verlust der Freiheit. Ich hätte zählen sollen, wie oft ich gehört habe: Dieses Buch hat mir die Augen geöffnet. Migration, Klima, Corona: alles drin und vor allem so verflochten, dass zusammenpasst, was eigentlich nicht zusammengehört und unsere Welt auf den Kopf gestellt hat. Viele haben danach Ungers Impfbuch gelesen, sich von seiner Heldenreise inspirieren oder bestätigen lassen und mit ihm um Gunnar Kaiser getrauert (Habe ich genug getan?, 2024). Wer schon länger dabei ist, kennt in der Regel auch Die Wiedergutmacher – ein Psychogramm der Babyboomer, das so nur jemand schreiben kann, der selbst erlebt hat, wie das Weltkriegstrauma vererbt wurde, und als Therapeut die Konzepte kennt, mit denen sich das in Worte fassen lässt.

Der Sachbuchautor Raymond Unger war und ist ein Fremdgänger – ein Künstler, preisgekrönt, den die Not des Beobachters gezwungen hat, das Metier zu wechseln. Der erste Hölderlin. Ohne die große Krise würde dieser Maler vermutlich immer noch nächtelang an seiner Staffelei mit der Materie kämpfen und vor allem mit sich selbst. Wahrscheinlich kennt Raymond Unger auch mein zweites Hölderlin-Zitat: Was aber bleibet, stiften die Dichter. Ich habe diesen Satz gerade wieder gehört aus dem Mund von Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR, der sich mit Gregor Gysi über Heimat unterhält, über den Osten und den Westen und dabei fast zwangsläufig auf die Historiker zu sprechen kommt. „Ärmliches Lohnschreiber-Geschwader“, sagt Diestel und zeichnet ein ganzes anderes Bild von der Vergangenheit als die Geschichtsbücher. „Die DDR ist meine Herkunft. Mein Paradies.“ Sagt einer ihrer Totengräber. Und damit Vorhang auf für die Dichter.

Bildbeschreibung

Auf der Bühne steht der Romanautor Raymond Unger, eine Melange aus dem Bildermacher und dem Gesellschaftsanalytiker, die den gleichen Namen tragen. Wuchtig kommt sein Gemälde KAI daher mit Szenen und Orten, von denen jeder Hollywood-Regisseur träumt. Ostsee und Alpen, Berlin, Hamburg und das Silicon Valley. Am Ende Fulda, okay. Davor aber eine Schriftstellerin, Ende 30, attraktiv, Objekt der Begierde zweier reifer Männer, bis die Dame plötzlich im Wortsinn zerfließt, das gute Stück eines der beiden Verehrer beleidigt (klein, was sonst) und auf den Teppich pinkelt. Das ist nur das Vorspiel für einen Antiterroreinsatz in der schwedischen Idylle und Explosionen im Zentrum von Berlin, für ein Auto, das seinen Fahrer wie von Geisterhand gesteuert in den Tod reißt, und für einen Quarterback, der auf dem Spielfeld tot umfällt – zur Primetime, damit jeder weiß, was ihm blühen könnte.

Ich schreibe das, weil ich ein wenig Angst hatte vor diesem Roman. Einer meiner Lieblingsautoren auf neuem Gelände. Wird er sich dort verlaufen, untergehen gar, und mir so einen Fixstern aus meinem Bücherregal nehmen? Nein, nein und nochmal nein. KAI ist ein großer Wurf. KAI ist das Buch, auf das ich gewartet habe. Sicher: Ich habe die Dystopie Hinter der Zukunft von Thomas Eisinger gefeiert, einen Augenöffner ersten Ranges, und ein wenig auch die Corona-Kurzgeschichten von Eugen Zentner. Trotzdem. KAI hat das Zeug, unseren Nachkommen zu berichten, was wir erlebt und erlitten haben. Und vielleicht noch wichtiger: KAI übersetzt all das in ein Märchen, das realer nicht sein könnte und mit einem Ende daherkommt, das die Kämpfe seit den frühen 2010er Jahren mit Sinn auflädt und aus Verlierern Sieger macht. Dazu gleich mehr.

Vorher ein Wort zu Hölderlin und zu seinem Satz über die Dichter, die sagen, was bleibt. Der Mensch ist ein Geschichtentier. Das ist trivial, ich weiß, kann aber nicht oft genug wiederholt werden in einer Zeit, in der eine Regierung sich ins Stammbuch schreibt, dass „die bewusste Verbreitung von falschen Tatsachenbehauptungen“ nicht „durch die Meinungsfreiheit“ gedeckt sei. Falsche Tatsachenbehauptungen. Was soll das sein? 2014 ist Argentinien Fußball-Weltmeister geworden. Oder Tansania. Zwei plus zwei ist fünf und der Autor dieses Textes – eine Frau. Ich muss gar nicht in die Absurditätenkiste greifen, sondern kann in meinem Fachgebiet bleiben. Das 20. Jahrhundert beginnt mit dem Panzerkreuzer Aurora in Petrograd und endet mit den Moskauer Schüssen vom August 1991. Falsch. Falsch? Muss ich künftig Putsch sagen und Sankt Petersburg und hundert Jahre hundert Jahre sein lassen, um der Medienaufsicht nicht ins Netz zu gehen?

Namen, Daten, Orte, Ereignisse: All das rauscht an uns vorbei, wenn es nicht mit einer Story daherkommt und sich nicht einfügen lässt in das, was wir uns über die Menschen und die Welt erzählen. Wer glaubt, dass der Staat ein guter Forscher ist, ein noch besserer Lehrer und der ideale Verwalter aller Vermögen, der wird sich nicht beklagen, wenn Steuergelder in Wissenschaft und Bildung, Kunst und Kultur gepumpt werden und man parallel über einen Lastenausgleich diskutiert. Noch einmal anders gewendet: Es lohnt sich nicht, die Gegenseite mit „Fakten“ und „Tatsachen“ zu bombardieren. Nicht das Fleisch entscheidet, sondern die Sauce. Demokratie, Menschenrechte, Wertewesten. Schwarz-Rot will die „Meinungsfreiheit“ wahren, aber trotzdem „auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen“. Alles in einem Satz. Das ist die hohe Schule der Manipulation – möglich nur, weil die Jünger des Parteienstaates gar nicht auf die Idee kommen können, dass im Namen der großen Erzählung Böses getan wird.

Bildbeschreibung

Raymond Unger weiß: Wir brauchen eine neue Erzählung. Und wir brauchen Klarheit über die Wucht, die Erzählungen entfalten. Also lässt er Materialisten und Idealisten aufeinander losgehen und öffnet auf dem Höhepunkt der Schlacht „ein Portal zur Anderswelt“, „durch das uralte kosmische Kräfte in unsere physische Welt hineinwirken können“ – bei ihm ein Einfallstor für die „transhumanistische Agenda“ und jene Kräfte, die „alles Menschliche“ verdrängen wollen. Wenn das jetzt kryptisch klingen sollte: keine Sorge. Dieser Autor kann erzählen. Er lässt Freud und Jung in einem Ehepaar auferstehen, das sich so kappelt wie Hans Castorp und Lodovico Settembrini auf dem Zauberberg von Thomas Mann, und mischt das, was er über Klima, 5G und mRNA braucht, in Gespräche mit ChatGPT und kurze Vorträge, die jeder verstehen kann, weil im Publikum Laien sitzen.

Von der Story selbst will ich hier nicht allzu viel verraten. Siehe oben. Wenn man ins Kino geht, reichen auch die Schnipsel aus dem Werbespot und die Gesichter der Helden. Bill Gates spielt mit, Uğur Şahin und Ulrike Herrmann. Leicht verfremdet, aber ja: Es geht schließlich um alles. Den Titel immerhin muss ich auflösen: Bei Raymond Unger sitzt KAI am Hebel. CO2-Märchen, Pandemie-Märchen, das Schlachtfeld Ukraine, Kriegstüchtigkeit: Produkte einer finsteren Macht, die bei ihm aus der Technik wächst und aus der Ideenwelt des Okkultismus, die man aber genauso gut ganz irdisch dort verorten könnte, wo nicht wenige einen „tiefen Staat“ vermuten. Ein guter Roman braucht nicht nur große Gefühle, sondern mehr als eine Ebene. Wer sich wie ich eher an Akteure und Ressourcen hält, kann KAI leicht als Metapher lesen, erst recht in dieser Schreibweise.

Raymond Ungers Gegenerzählung ist nicht neu, aber verlorengegangen auf Plattformen und Bildschirmen, die keine Zwischentöne erlauben und so die Spaltung vorantreiben. Unger sagt: Rettung kommt von da, wo es keine Mehrheiten gibt. Der Außenseiter in der Wissenschaft. Die Menschen, die entscheiden und verzichten und erst so zum Menschen werden. Coronakritiker. Ostdeutsche. Er sagt außerdem: Es gibt U-Boote selbst da, wo die Mehrheiten sind. Schreibt auch die nicht ab, die euch im Moment als Zielscheibe erscheinen. Vor allem aber sagt er: Der Mensch kann Dinge tun, die buchstäblich niemand auf dem Zettel hat. Gegen jede Wahrscheinlichkeit und damit völlig anders als selbst die perfekte Maschine. Nur der Mensch kann sich lösen von dem, was ist, und so Freund Hölderlin alle Ehre machen.

Vielleicht ein Wermutstropfen: Starke Frauen fehlen in seiner Welt. Das heißt: Es gibt starke Frauen, aber nur auf der dunklen Seite der Macht oder als leichtes Opfer von KAI. Ich habe mit zwei Kennerinnen über den Roman gesprochen, die insgesamt sehr angetan waren, aber leicht die Nase rümpften wegen mancher Formulierung und einigen Figuren. Hier und da etwas technokratisch, sagten die beiden, und nicht immer prall im Leben. Was soll man da antworten als Mann. Ich, ein Sachbuchfresser, habe KAI verschlungen. Und: Gut, dass wir endlich auch in der Unterwelt (Walter van Rossum) einen Roman haben, erschienen in einem großen Verlagshaus, über den wir streiten können.

Bildbeschreibung

Raymond Unger: KAI. München: Europa Verlag, 431 Seiten, 25 Euro.

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Bildquellen: Raymond Unger 2018 auf der Frankfurter Buchmesse. Foto: picture alliance / Frank May