Vor fast 15 Jahren las ich das Buch „Una e indivisibile. Reflessioni sui 150 anni della nostra Italia“ (Einig und unteilbar. Gedanken über die 150 Jahre unseres Italiens), das der damals schon 86-jährige italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano aus Anlass des 150. Jubiläums der Staatsgründung veröffentlicht hatte. Napolitano galt als linker Politiker.
Mir fiel damals auf, dass auf der historischen Reise, die Napolitano unternimmt, etliche Teile der neueren italienischen Geschichte übersprungen werden. Es fehlt die Erklärung, aufgrund welcher territorialen Versprechen Italien im Ersten Weltkrieg auf die Gegenseite wechselte und einen erbitterten Krieg gegen Österreich führte. Es fehlt jede Erwähnung, wie Südtirol unfreiwillig in das unteilbare Italien kam und wie man anschließend über Jahrzehnte einen kulturellen Genozid versuchte. Es fehlt die Reflektion über einen italienischen Kolonialismus, der bereits vor Mussolini begann und zu grausamen Kriegen in Libyen und Abessinien führte und dann noch einmal zu Kriegen auf dem Balkan, von denen nicht einmal Hitler begeistert war. Es fehlt nicht nur die Tatsache, dass Italien Hitlers engster Verbündeter war, sondern auch, dass der italienische Faschismus bereits zehn Jahre früher an der Macht war und in vielerlei Hinsicht zum Vorbild der Nazis wurde. Und es fehlt auch die Beteiligung am spanischen Bürgerkrieg, am Feldzug Hitlers gegen Frankreich und am Feldzug gegen die Sowjetunion. Umso glorreicher geht es wieder los mit den Partisanen gegen die deutsche Besatzung in Italien nach 1943. Jemand hat diesen selektiven Umgang mit der eigenen Geschichte ironisch mit dem Dreisprung „Vom Rinascimento über das Risorgimento zur Resistenza“ beschrieben.
Ich habe vergessen, wer diesen Satz formulierte, aber er könnte gut von Francesca Melandri stammen. Denn die Auseinandersetzung mit dieser partiellen Blindheit ist das Thema der Romane dieser italienischen Autorin, in „Eva dorme“ (Eva schläft) zu Südtirol und in „Sangue Giusto“ (Alle außer mir) zum Krieg in Abessinien. Damit hat sich Melandri, die in Rom, Bruneck und Berlin lebt und sehr gut Deutsch spricht, nicht überall in Italien beliebt gemacht. Schon gar nicht bei den „Linken“, bei denen sie sich selbst verortet. Auch ihr aktuelles Buch „Piedi freddi“ (Kalte Füße) reiht sich hier ein.
Auf dem Einband der italienischen Ausgabe steht „Romanzo“ (Roman) – und immer wieder lässt Melandri ihre Fähigkeit aufblitzen, in wenigen Worten Situationen lebendig werden zu lassen. Aber ein Roman ist das Buch nicht und will es wohl auch nicht sein. Den Maßstab von „show, don’t tell“ erfüllt es eindeutig nicht. Vielleicht ist das Buch ein Essay. Vielleicht gar ein Manifest. Aber irgendwie entzieht es sich diesen Kategorien. Und es kann einem auch egal sein, denn es lässt sich lesen wie ein lebendiger und spannender Roman.
Francesca Melandri hat „Kalte Füße“ angelegt als Dialog mit ihrem schon vor Jahren verstorbenen Vater, der nach den Kolonialkriegen in Libyen und Abessinien mit der „Divisione Alpina Julia“ am Feldzug gegen die Sowjetunion teilnahm. Und anschließend noch an den italienischen Versuchen, Jugoslawien und Griechenland für die erträumte Wiedergeburt des Imperium Romanum zu gewinnen. Also das ganze Programm, obwohl er 1945 erst 26 Jahre alt war. Dieser Vater ist nicht nur literarische Fiktion, sondern Franco Melandri gab es wirklich. Auch die von Melandri zitierten Bücher und Zeitungsartikel des Vaters sind real. Also keine Autofikion, sondern Recherche und Dokumentation. Auch passende Episoden ihres eigenen Lebens offenbart Melandri freizügig und real.
Sie berichtet von der Teilnahme ihres Vaters am Feldzug gegen die Sowjetunion, an welchem sich Italien nicht nur notgedrungen beteiligte, sondern dabei eigene Ziele verfolgte. Melandri wird nicht müde zu betonen, dass es kein Feldzug gegen Russland war, sondern formell gegen die Sowjetunion, geografisch, ethnisch und vom erhofften Zugang zu den Getreidefeldern her vor allem ein Krieg gegen die Ukraine.
Dies bildet für sie die Brücke zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine – einem Krieg, den sie in diesem Ausmaß, dieser Unverblümtheit und dieser Brutalität nicht für möglich gehalten hat. Sie nimmt dabei kein Blatt vor den Mund und benennt Ross und Reiter – in diesen Passagen ist das Buch ganz nah am Manifest. Sie beschreibt Geschichte und Haltung eines russischen Kolonialismus, der von den Zaren über Stalin bis zu Putin führt. In diesem großrussischen Konzept besitzt ein Land wie die Ukraine kein Recht auf eine eigene Identität. Nicht auf eine eigene Sprache oder Literatur. Viele zerstörerische und tödliche Angriffe richten sich nicht auf militärische Ziele, nicht einmal auf die Infrastruktur, sondern auf die Symbole der ukrainischen Kultur.
„Kalte Füße“ ist ein Buch über den Krieg. Über seine Unerbittlichkeit. Und über das Überleben – Leutnant Franco Melandri und die von ihm geführte Truppe hatten 1943 den Rückzug nur überlebt, weil sie statt der ungenügenden eigenen Ausrüstung ein Lager mit Schuhen der Roten Armee gefunden hatten. Daher der Titel „Piedi freddi“. Darüber, dass auch hartgesonnene Soldaten verrückt werden können, wenn sie aus nächster Nähe erleben, wie einem kleinen Kind der Kopf weggeschossen wird. Das Buch des Vaters darüber trug den Titel „Ritorno col matto“ (Rückkehr mit dem Verrückten). In ihren Recherchen legt Melandri aber auch offen, wie ihr Vater, der als Journalist durchaus mit dem System verbandelt war, die Wende von 1945 überlebte. Akribisch hinterfragt sie, was darüber Zuhause erzählt wurde und was nicht.
Immer wieder weist sie auf unsere bequeme, moralisch aufgeblasene Haltung zum Krieg hin, vor allem zu den Kriegen der anderen:
Wir sagten: „Wir wollen keinen Krieg“, so wie ein verwöhntes Kind sagt: „Ich will keinen Spinat“ – es weiß, dass seine Mutter das verhasste Gemüse vor ihm wegnehmen und ihm Pommes frites geben wird. Seine kapriziöse Allmacht hat sich wieder und wieder bestätigt, und unsere auch. Jahrzehntelang wurden die unerträglichen Kriege der anderen bald vom Tisch unserer Aufmerksamkeit geräumt. Ja, wir hatten ein wenig Mitleid mit den armen Opfern, aber jetzt kamen die Pommes.
Noch unverblümter als ihre Romane ist „Kalte Füße“ auch ein selbstkritisches Buch über die Lebenslügen der linken Intellektuellen, zu denen sie sich selbst zählt. Ein Buch über eine Szene, die immer dann kalte Füße bekommt, wenn es ernst wird. Es ist ein Buch über den selektiven und manipulativen Umgang mit Geschichte, über die Definition von Kolonialismus, über die Unterdrückung von Fakten, damit es nur ja keinen „Applaus von der falschen Seite“ gibt. Sie, ein Leben lang Feministin, kritisiert einen Feminismus, der Kriege nur als patriarchalische Verschwörung gegen die Frauen einordnen kann – und dabei die Rolle von Frauen als Panzerfahrer der Roten Armee oder als Drohnenpiloten der Ukraine ausblenden muss. Am Ende macht sie sich ein Zitat des Slawisten Sergio Baratto zu eigen: Man kann links sein und trotzdem solidarisch mit einem Land, das von einem anderen Imperialismus als dem der USA überfallen wurde.
Francesca Melandri: Kalte Füße. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Berlin: Klaus Wagenbach 2024, 288 Seiten, 24 Euro.*
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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