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Buch-Tresen | 10.07.2025
Schmidt, Bernig, Kafka
Die Cancel Culture zerstört nicht nur Demos und Vortragsabende, sondern auch die Literatur und damit die Basis des Geisteslebens.
Text: Michael Meyen
 
 

Das nenne ich mal ein Buch. Ein bisschen mehr als 30 Seiten nur – noch dazu im Miniformat und mit großer Schrift, aber Stoff für ein paar Tage. Vielleicht länger. Kathrin Schmidt hat drucken lassen, was sie vor etwas mehr als einem Jahr in der Akademie der Künste Berlin zum hundertsten Todestag von Kafka zu sagen hatte. In Kurzform: Die Umstände zerstören meine Kunst. Die Umstände nehmen mir mein Vermögen – das, was ich besser kann als die allerallermeisten. Die Umstände verbauen mir den Weg zu den Wörtern und damit zu den Geschichten.

Nichts will gelingen, was sich dem öffentlichen Duktus des Sprechens entgegen stellt.

Ich kann diesen Satz hervorheben, weil er gleich zweimal in diesem Büchlein steht. Erst im Vorwort von Jörg Bernig, der ganz genau weiß, was er sagt, wenn er von den „Umständen“ spricht, die keineswegs nur „außer uns liegen“, sondern „gewollt, gezielt über uns gebracht werden“. Bei Bernig war es ein Text in einem Regionalblatt, der vor knapp zehn Jahren die Umstände änderte, unter denen er arbeiten musste, leben musste. Ein Text, der auf neue Umstände reagierte und nur sagen wollte: Passt auf! Wir müssen über das reden, was wir da tun. Zitat:

Zorn allenthalben. Zorn angesichts der Situation, die auch mit den immer zahlreicher ins Land kommenden Menschen zu tun hat.

Dass sich Jörg Bernig damals, Ende 2015, als „89er“ ausweisen konnte, hat ihm nicht geholfen. Man kann sein Ringen mit den Umständen in den „Begleitschreiben“ nachlesen, die er 2023 veröffentlicht hat, oder in einem Artikel von Thorsten Hinz, der im April in der Wochenzeitung Junge Freiheit erschienen ist. „Über Mechanismen und Hintergründe der sozialen Vernichtung“ steht dort in der Unterzeile und fasst das ganz gut zusammen.

Bernig

Jedenfalls: Kathrin Schmidt hätte keinen besseren Vorwort-Schreiber finden können. Noch eine „89erin“ und wieder das gleiche Spiel, diesmal rund um Corona und um einen Text im Onlinemagazin Rubikon, den mir die Suchmaschine selbst heute noch nicht anzeigen möchte, obwohl ich weiß, dass die Seite inzwischen anders heißt. Stattdessen unter den Top 10: „Irritierende Vergleiche mit der NS-Ärzteschaft“, „Abgedriftet in die Querdenker-Szene“ und „Der ‚Corona-Quark‘ der Dresdner Stadtschreiberin“.

Der „Quark“ hat es bis in die Kafka-Rede von Kathrin Schmidt geschafft. Er steht dort neben dem „Käse“, der bemüht worden ist, um jede „Einrede“ der Schriftstellerin überflüssig zu machen und allen Beifall zu klatschen, die ihr am liebsten überhaupt keine Bühne mehr geben würden oder ihr aber, wenn sich das nicht durchsetzen lässt, zurufen, dass sie natürlich sagen könne, was sie nur wolle, dann aber eben auch „mit dem Widerspruch rechnen“ müsse. Kathrin Schmidt:

Das mache ich gern, gebe jedoch zu bedenken, dass zunächst ich es gewesen bin, die einen Widerspruch äußerte zu den großen Erzählungen. Dass ich es doch bin, die ihn eingelegt hat, und eigentlich jene Seite, der ich meines entgegensetzte, dieses zur Kenntnis nehmen sollte. (S. 30)

Genau das passiert nicht. Und genau das hat dieser Künstlerin die Sprache verschlagen. René Schlott hat nach der Kafka-Rede im Cicero ein Kathrin-Schmidt-Porträt veröffentlicht und die Stimmung im Festsaal auf den Punkt gebracht:

In der anschließenden Podiumsdiskussion fällt über ihren Vortrag kein Wort. Die Moderatorin beschreibt ihn kurz und knapp als „politische Schmuggelware“. Sonst ist alles wie zuvor: Dialoge finden nicht statt.

Zugegeben: Diese Rede ist keine leichte Kost. Das gilt nicht nur, weil Kathrin Schmidt den Kafka-Text „Entschlüsse“ nutzt, um ihren Text zu weben. Im Buch stehen die zwei Kafka-Seiten zwischen dem Vorwort von Jörg Bernig und der Rede selbst, wo sich dann jedes Wort des schon hundert Jahre toten Meisters wiederfindet, hervorgehoben in Großbuchstaben, die immer wieder „Achtung!“ rufen und den Sog brechen. Auch der Inhalt ist sperrig. Die Sprache sowieso. Man könnte sagen: So sind Schriftsteller halt. Sie müssen uns doch Rätsel mitgeben und dem Hörer das Gefühl, sich angestrengt und dabei etwas gelernt zu haben. Und dann dieses Publikum. Die Crème de la Crème der deutschen Kultur. Da kann man nicht so reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Kann man doch. Vor allem: Kathrin Schmidt kann das. Man nehme nur ihre „Weimarer Rede“ von 2019 zur Hand, gehalten im Deutschen Nationaltheater und unter dem herrlichen Titel „Gesucht: Zeitgeist_in (m/w/d)“ 2020 veröffentlicht in der Zeitschrift Sinn und Form. Ein Text mitten aus dem Leben und voll mit biografischen und ganz persönlichen Einschüben, die auch seinerzeit schon das große Ganze verdaulich machen sollen – Pegida zum Beispiel, wo Kathrin Schmidt eine solche Nähe zu den „mitlaufenden Demonstranten“ gesteht, „daß ich sie lieber ausreden lasse, als sie ohne Anhörung zu verdammen“.

Wissen Sie eigentlich, wie schwer es ist, so etwas in öffentlicher Rede auszusprechen?

Jetzt, nur einen Wimpernschlag später, sagt sie mit Kafka im Gepäck:

Mein ZUSTAND macht sprachlos, nur mich!, denn niemand vermisst, was ich schweige.

Einspruch, Euer Ehren. Ich bereite gerade ein Interview mit dieser Schriftstellerin vor und habe deshalb Kathrin-Schmidt-Wochen hinter mir. Erzählungen, Gedichte, Reden und vor allem Romane. „Du stirbst nicht“, „Kapoks Schwestern“, „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“. Ich habe nur diese drei geschafft und bin schon jetzt süchtig nach mehr. In Kathrin-Schmidt-Texten sitzt jedes Wort. In Kathrin-Schmidt-Texten öffnet jeder Satz einen Kosmos an Bildern und Gedanken. Die Kafka-Rede sagt: Dieser Kosmos droht zu verschwinden, nicht nur bei Kathrin Schmidt. Die Historiker haben hier ein Dokument, das ihnen sagen wird: Man hätte es wissen können.

Schmidt

Kathrin Schmidt: Kafka – Entschlüsse. Rede vom 4. Juni 2024 in der Akademie der Künste Berlin zum hundertsten Todestag von Franz Kafka. Gerswalde: Umland-Verlag 2025, 36 Seiten, 7,95 Euro.

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Bildquellen: 2009 - Kathrin Schmidt auf dem Literaturgipfel: Deutscher Buchpreis für "Du stirbst nicht". Foto: picture-alliance/ dpa | Uwe Anspach