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Welt-Tresen: Ungarn | 07.01.2025
Ruinen und Luftschlösser
Das Jahresende habe ich in meinem Heimatdorf an der ungarisch-rumänischen Grenze erlebt. Am 1. Januar bin ich mitten in Europa aufgewacht.
Text: Éva Péli
 
 

Der Dezembernebel kroch tief in die Knochen der Dorfbewohner im Randgebiet von Ostungarn und verwischte die Grenzen zwischen Ungarn und dem Teil von Rumänien, der Transsylvanien heißt und jahrhundertelang zu Ungarn und der k.u.k. Monarchie gehörte. Seit dem Systemwechsel war diese Gegend vergessen: kaputtgewirtschaftete Dörfer mit alten Menschen, verlassene Häuser und kaum Arbeitsplätze. Nun gibt es an „Schengen“ große Erwartungen.

Mezőhegyes, mein Heimatdorf – offiziell Stadt – beherbergte früher die älteste Zuckerfabrik des Landes. Seit 1785 für sein Nationalgestüt bekannt, entwickelte sich Mezőhegyes vor den Weltkriegen zu einem der größten und modernsten landwirtschaftlichen Anwesen in Europa. Generationen von Bewohnern kribbelte jedes Jahr ab September bis zum Jahreswechsel der stechende Geruch von Melasse in der Nase. Braune Zuckermasse. Die Fabrik zog Frauen und Männer der Nachbardörfer drei bis vier Monate rund um die Uhr zur Schichtarbeit, bis die Zuckerrübe zu weißem Kristall und Pulver verarbeitet war.

Die Älteren erinnern sich noch an das Hupen des Dampfhorns, das den Schichtwechsel um sechs Uhr morgens, um zwei Uhr nachmittags und um zehn Uhr abends ankündigte – wie eine betagte Dampflokomotive. Die ganze Gemeinde konnte das hören. „Gleich ruft die Fabrik“, sagten die Menschen, statt auf die Uhr zu gucken.

Die drei Huptöne haben vielen Familien in Mezőhegyes und Umgebung den Takt für den Alltag gegeben: Kinder stehen auf und gehen in die Schule, Mutter legt sich nach der Nachtschicht hin … Die Fabrik war einer der wichtigsten Arbeitgeber. Einmal im Jahr gab es eine Fabrikbesichtigung. Ein Fest für die Kinder! Dann konnten wir alle rein und haben Zuckerhüte bekommen – zu Kegeln geformten Zucker in buntem Papier. Das war für uns ein Erlebnis wie im Disneyland!

Seit 1997 liegt die Fabrik brach, verkommt das Gelände, zerfallen die Gebäude. Der einst mit Puderzucker bestäubte Betrieb ist jetzt von Tristesse und Schwermut umwoben. Im Winter mit Reif bedeckt – im Sommer grauhaarig vom Staub.

Heute leben hauptsächlich ältere Menschen in Mezőhegyes. Ihre Kinder verlassen nach der Schule die Stadt oder das Land. Nach 2004 haben viele junge Menschen aus Ostungarn von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch gemacht. Das schöne Lockwort verlor rasch seine Zugwirkung, als wir erfuhren, dass die Freizügigkeit in der EU recht eingeschränkt ist: Die Osteuropäer waren nur als billige Arbeitskräfte in Großbritannien, Irland oder Schweden willkommen. So ist aus der einst 10.000 Einwohner zählenden Stadt in 30 Jahren eine 4.500-Seelen-Gemeinde geworden.

Die einst staatlichen landwirtschaftlichen Betriebe und das Gestüt wurden in den 1990er Jahren nach 220 Jahren erst privatisiert, später wieder verstaatlicht – circa 147 Millionen Euro erhielt die Stadt vom Staat für Investitionen. Seit 2021 gehört das Unternehmen einer öffentlichen Stiftung, deren Kurator der Bau- und Verkehrsminister János Lázár (Fidesz) ist. Da erhielt das Unternehmen nochmal etwa 36 Millionen Euro für Investitionen, für ein Gestüt und eine Musterwirtschaft.

Die Milliarden (in Forint) flossen, aber die Arbeitslosigkeit blieb und ist sogar schlimmer geworden. Viele Beschäftigten aus Mezőhegyes wurden gekündigt. Höher qualifizierte jüngere Menschen aus anderen Teilen Ungarns wurden eingestellt. Modernisierung und Mechanisierung verringern den Bedarf an Arbeitskräften, gesteht Lázár. Gebraucht würden Menschen, die mit einer 400.000 Euro-Maschine betraut werden können.

Eine Sporthalle wurde für 3.3 Milliarden Forint (8 Millionen Euro) errichtet – völlig überdimensioniert. Geplant ist ein Schwimmbad für etwa zweimal soviel Geld. Auf der Webseite der Architekten heißt es: „Die dreistöckige Anlage mit einer Nutzfläche von fast 3.000 Quadratmetern umfasst unter anderem traditionelle Handball- und Basketballplätze, eine Turnhalle, Fechtbahnen mit elektrischen Torschützen, eine Kletterwand mit automatischem Selbstsicherungssystem und andere Einrichtungen“.

Bei der feierlichen Übergabe im Herbst war ein Überraschungsgast dabei: Viktor Orbán, der erste Mann Ungarns. „Die Dimensionen der Sporthalle und die räumliche Positionierung des Gebäudes zeigen, dass der Bau über die Bedürfnisse der Schule und sogar über die Bedürfnisse des Unternehmens hinausgeht“, so die Architekten.

Alles schön und gut. Aber den Einwohnern von Mezőhegyes nützt es wenig. Dort leben Menschen, die jahrzehntelang kaum Sportmöglichkeiten hatten – erst vor einigen Jahren wurde der Fahrradweg zum Nachbardorf errichtet. Bis dann jonglierten die Radfahrer zwischen Lkw und Pkw am Rand der Fahrbahn.

Mein Vater, 81, würde gerne Yoga, Rückengymnastik oder etwas anderes für seine Gesundheit tun. Er würde auch gerne tanzen, bowlen – was er noch als Kegeln kennt – oder ähnliche altmodische Sachen treiben. Mit viel wenigerer Aufwand wäre all das auf wesentlich kleinerer Fläche zu realisieren. Fachpersonal, Trainer, Physiotherapeuten wären nötig dafür. Doch für die eigenen Einwohner wird wenig getan.

Die Architekten schreiben: Die Halle soll gut zu Natur und Architektur des Ortes passen. Mag sein. Aber sie passt nicht zu Lebensstil und Alltag der Menschen.

Die trächtigen Kühe bekommen dafür Wasserbett und individuelle Fütterung mit Robotern. Die Rinder können per GPS identifiziert werden. Der Melkprozess wird vollständig robotisiert und die Traktoristen fahren per iPad. Die Rinderfarm mit dänisch-US-amerikanischer Technologie und die anderen landwirtschaftlichen Betriebe von Mezőhegyes sollen bereits jetzt das Beste von Ungarn sein. In einiger Jahren sollen sie die Spitze Europas erreichen.

Für einen Bruchteil der investierten Gelder könnte viel für die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Einwohner getan werden. Menschen im arbeitsfähigen Alter träumen von Arbeitsplätzen, nicht von Luftschlössern für einige hochqualifizierte Landwirte außerhalb von Mezőhegyes.

Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.

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Bildquellen: Ehemalige Zuckerfabrik in Mezőhegyes. Foto: Éva Péli