Beim Aufräumen fand ich kürzlich ein kleines Flugblatt aus dem Winter 2021/22. Im Zusammenhang mit den Corona-Impfungen ruft es zu einer „Kundgebung für Solidarität“ auf. Irgendetwas an dem Flugblatt war mir damals seltsam aufstoßen, sonst hätte ich es nicht aufgehoben. Heute, einige Jahre später, macht es mich erneut nachdenklich.
Ich war in der Coronazeit immer sehr folgsam. Ich habe meine Masken stets in der gerade angesagten oder verfügbaren Version getragen. Erst gar keine, weil man uns erzählte, dass Masken sowieso nichts bringen. Dann selbstgenähte Stoffmasken mit Gummis, die die Ohren wundscheuerten. Dann medizinische Masken. Und schließlich FFP2. Immer noch finde ich vergammelte Exemplare in Kleidungsstücken, die ich länger nicht getragen habe. Ich habe die erste Gelegenheit zum Impfen genutzt – ich hätte auch den russischen Impfstoff Sputnik V genommen. Im Goinger Kreis und anderen Gremien haben wir uns drei Jahre lang nicht persönlich getroffen. Was also stört mich an dem belanglosen Flugblatt?
Damals wie heute irritiert mich die grafische Gestaltung, irgendwie eine Mischung aus Evangelischem Kirchentag, New Age Bewegung und Nordkorea. Vor allem das Symbol: „Solidarische Kundgebung im Landkreis München“. Man sieht das Zeichen für Atom – soll es unfehlbare Wissenschaft symbolisieren? In der Mitte das böse Virus, bekämpft von einer Impfspritze, die an die gekreuzten Sturmgewehre auf den Logos paramilitärischer Einheiten erinnert. Dann gibt es rundherum sechs Arme, die ineinandergreifen. Sie sind in den Regenbogenfarben ausgemalt. Was sollen hier die Regenbogenfarben? Noch mal schnell bei Google nachgeschaut: „Die Regenbogenfahne symbolisiert mit ihren bunten Farben die Vielfalt der Lebens- und Liebesformen.“ Nun, mit den Pride-Flaggen hat das Symbol in der Tat die Pedanterie gemeinsam, bei der inzwischen nur noch die Fußnoten fehlen. Aber auf dem Flugblatt sollen die Regenbogenfarben wohl symbolisieren: Wir sind die Guten. Schon damals treffen wir auf die Allparteienregierung als Bollwerk gegen das Böse.
Auf den ersten Blick will die Kundgebung solidarisch sein mit Pflegekräften und Ärzten. Aber tatsächlich ist die Botschaft: Wer sich nicht impfen lässt, ist unsolidarisch. Es ist also keine Demonstration für etwas, schon gar nicht für irgendeine Vielfalt, sondern gegen etwas. Gegen alle, die sich nicht impfen lassen. Warum nicht gleich Fackelzüge oder Mahnwachen vor den Häusern von Ungeimpften?
Wie gesagt, ich gehörte zu den Impfdränglern. Ich wurde geimpft mit dem, was gerade verfügbar war. Zuerst mit Astra Zeneca. Zwei Monate später mit Biontech. Fünf Monate später schließlich mit Moderna. Impfstoffe, die unterschiedlichen Grundkonzeptionen folgen und die gerade erst ihre Zulassung erhalten hatten. Als ich den Arzt fragte, ob man die verschiedenen Impfstoffe kombinieren könne, antwortete er: Ja, das sei sogar besser. Woher wusste er das? Nur eine kleine Rechnung: Wenn man drei Impfstoffe in beliebiger Mischung und Reihenfolge miteinander kombinieren kann, gibt es 27 mögliche Kombinationen. Die hatte man wohl kaum alle durchgetestet. Wie gesagt, ich habe das alles vertrauensvoll mitgemacht. Ich hatte keine Neben- oder Nachwirkungen. Aber man kann mit sehr rationalen Gründen Fragen stellen. Und man kann mit rationalen Gründen sagen: Ich will das nicht.
Ich glaube nicht an Verschwörungen und nicht an Mikrochips, die per Impfung implantiert werden. Mich schreckt auch nicht, dass alle Impfungen genau wie alle Medikamente Nebenwirkungen haben. Letztlich ist es mir auch egal, ob das Virus auf einem Tiermarkt oder in einem Labor entstand. Ich mag auch nicht richten über Fehler und falsche Einschätzungen in der Anfangszeit, auch nicht über unkonventionelle Methoden der Maskenbeschaffung, nicht einmal über überhöhte Preise für Impfstoffe in der Phase, als man alles Heil von ihnen erwartete. Aber es gibt viele Fragen, etwa zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Über die Einschränkungen von Freiheitsrechten.
Als meine betagte Tante starb, verriet mir das Altenheim nicht das Beerdigungsdatum, weil ich sonst verbotenerweise auf dem Friedhof erscheinen könnte. Man kann fragen, warum der Staat seine Einrichtungen schloss, während gleichzeitig vorausgesetzt wurde, dass die Mitarbeiter in Supermärkten und Betrieben ihre Arbeit weitermachten. Man kann Fragen dazu stellen, dass nach Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen, an denen Tausende ganz normaler Menschen mit ihren Familien teilgenommen hatten, am Abend in der Tagesschau nur ein Neonazi und ein Aluhutträger vorgeführt wurden. Darüber, welche katastrophalen Folgen die Schulschließungen für Kinder und Jugendliche hatten. Und nicht zuletzt kann man fragen, warum das alles nicht in ordentlicher Weise aufgearbeitet wurde.
Es gibt gute und differenzierte Versuche dazu – etwa in einer Tagung der „Republik21“ der früheren Bundesministerin Kristina Schröder. Aber warum nicht im Parlament, wo die Beschlüsse gefasst wurden? Jens Spahn hatte gesagt, nach der Pandemie werden wir einander viel verzeihen müssen. Einverstanden, aber Vergebung setzt Reue voraus. Davon habe ich bei den Verantwortlichen noch nichts gesehen. Wie sollen wir dann verzeihen? Oder war damit gemeint, dass die Regierung dem Volk verzeiht? Auch das geschieht nicht. Selbst Tyrannen haben nach Siegen in Bürgerkriegen oft einen Schlussstrich gezogen und ihre Gegner amnestiert. Nicht einmal diese Befriedung, so machttaktisch sie motiviert sein mag, wurde den Betroffenen bisher gegönnt.
Warum diese Unerbittlichkeit, die bei vielen Menschen bis heute tiefe Wunden hinterlassen hat? Warum diese Verweigerung von Offenlegung, Reflexion und Selbstkritik – eigentlich die größte Stärke freiheitlicher Demokratien? Dies führt mich zurück zum Flugblatt: Seine religiöse Aufmachung ist nicht einfach eine Geschmacksverirrung. Sie ist ein Beispiel für die allgegenwärtige Moralisierung, die ohne sachlichen Diskurs jeden Widerspruch und jede abweichende Meinung sofort diskreditiert und delegitimiert. Josef Schumpeter schrieb vor achtzig Jahren: „Für jeden Anhänger eines Glaubens ist der Widersacher nicht nur im Irrtum, sondern in der Sünde verstrickt. Anders zu denken, wird nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch missbilligt.“
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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