Reduktiv, schlicht und genial. Mit dieser Formel könnte man das Büchlein „Jeder Mensch“ von Ferdinand von Schirach in aller Kürze beschreiben. Schirachs radikale Fokussierung auf das Wesentliche spiegelt sich im Umfang. Das Büchlein umfasst nur einunddreißig Seiten und ist in einer verblüffend einfachen Sprache geschrieben. Lesen lässt es sich schnell. Der Nachhall dauert an und inspiriert mich, diese Rezension zu verfassen.
Bild: Ferdinand von Schirach 2009. Foto: Paulus Ponizak, CC BY-SA 3.0
Schirach gibt auf den ersten Seiten seines Manifests einen historischen Abriss über die Entstehung von Menschen- und Bürgerrechten: Von der Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas über die Französische Revolution bis zur Europäischen Union. Die Grundrechte, die wir heute als selbstverständlich erachten, hätten sich nicht einfach von alleine ergeben, betont Schirach. Ihrer Realisation seien unerbittliche Kämpfe vorausgegangen. Utopien seien ihr Ausgangspunkt gewesen.
Im Dezember 2009 trat die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ in Kraft. Die Staatschefs und Mitglieder des Europäischen Parlaments hätten Jahre gebraucht, um sich auf eine Fassung zu einigen. Sie hätten dabei aber nicht die Herausforderungen im Blick gehabt, vor denen wir heute stehen, unterstreicht Schirach.
Nie zuvor konnten wir unsere Lebensentwürfe so selbstbestimmt verwirklichen, nie zuvor war unser Leben in einem solchen Umfang in Würde, Freiheit und Gleichheit möglich. Die Utopien der großen Erklärungen der Menschheit wurden weitgehend wahr. Aber jetzt stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. (Seite 16)
Man müsse die EU-Grundrechtecharta erweitern, da sie bestimmten Phänomenen aufgrund einer unvorhergesehenen Entwicklung inhaltlich nicht gerecht werden könne. Wegen der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, sieht Schirach die Notwendigkeit, sechs zusätzliche Grundrechte zu implementieren. Und da man sie klarer und komprimierter nicht hätte formulieren können, gestatte ich mir, sie im Originalton zu zitieren (Seite 18-19):
Obgleich ich alle von Schirach formulierten Grundrechte durchweg als sinnvoll erachte, muss ich gestehen, dass ich Artikel 4 favorisiere. Ich musste schmunzeln, als ich ihn das erste Mal las. Man möge sich nur vorstellen, wieviel Grundrechtsklagen bei den europäischen Gerichten eingingen, wenn dieser Artikel bereits Bestandteil der EU-Grundrechtecharta wäre. Dieser Artikel erscheint mir nicht nur logisch, sondern geradezu geboten in Anbetracht der Tatsache, dass viel zu viel Lügen von Öffentlichkeitsakteuren verbreitet werden. Könnte man diesen Missstand strafrechtlich verfolgen, wäre wahrhafte Aufklärung das Resultat. Verdeckte Machtstrukturen kämen schneller ans Licht. Man könnte endlich über die tieferliegenden Ursachen der Probleme debattieren, mit denen wir es zu tun haben, und das Übel an der Wurzel packen.
Bild: Bühnenbild von „Terror“ in Villach (Ferdinand von Schirach; Regie & Bühnenbild: Martin Dueller). Foto: Knappweltweit, CC BY-SA 4.0
Die Digitalisierung all unserer Lebensbereiche scheint zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein und wird von den Wenigsten noch in Frage gestellt. Dass wir uns dabei nicht gegen Überwachung und Manipulation durch Algorithmen wehren können, ist im Grunde skandalös. Schirach formuliert folgerichtig ein Verbot. Artikel 2 soll bewirken, dass der Einzelne stärker vor Eingriffen in seine Privatsphäre geschützt wird. Wer will der Sinnhaftigkeit dieses Gesetzes widersprechen?
In ähnlicher Weise möchte Schirach mit Artikel 3 sicherstellen, dass KI-Systeme nicht einfach blind Macht über Menschen ausüben können. Wenn ein Algorithmus etwas Wichtiges bewertet (zum Beispiel medizinische Diagnosen, Bewerbungen oder Kredite), soll ein Mensch das letzte Wort haben.
Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Es ist unbestritten, dass wir, was die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz betrifft, noch gar nicht einschätzen können, welche Herausforderungen mit ihr einhergehen werden. Um so dringlicher ist es, Menschen vor den potenziellen Gefahren juristisch zu schützen.
Die von Schirach formulierten Grundrechte sprechen für sich. Die Notwendigkeit der von ihm geforderten Modifikation dürfte wohl kaum jemand in Abrede stellen wollen. Dass eine Umsetzung nicht einfach zu bewerkstelligen ist, steht außer Frage. Um Schirachs erweiterte Grundrechte implementieren zu können, müsste man einen Verfassungskonvent einberufen. Ein derartig revolutionärer Akt verlangt die Zustimmung vieler Mitgliedstaaten. Entscheidend ist, dass sich die geforderten Grundrechte nicht gegen die bestehenden Strukturen richten, sondern eine Weiterentwicklung darstellen. Auch die EU-Grundrechtcharta entstand in einem Konvent. Die Durchsetzung von Schirachs Vision erfordert „lediglich“ politischen Willen. Na, wer könnte wohl etwas dagegen haben?
Unter dem Slogan „Eine neue Utopie für Europa“ haben sich namenreiche Persönlichkeiten aus Kultur, Rechtswesen, Wirtschaft und Wissenschaft zusammengeschlossen und 2020 einen Verein gegründet. Jeder Mensch e.V. engagiert sich für Schirachs Grundrechte und den dafür erforderlichen europäischen Verfassungskonvent. Auf der Seite des Vereins können sich Bürger informieren und aktiv an der Realisation mitwirken. Vielleicht wird Ferdinand von Schirachs Utopie eines Tages Wirklichkeit. Ich wünschte mir, wir könnten uns bereits heute auf diese Grundrechte berufen. Dies wäre ein echter Quantensprung in der Menschheitsgeschichte.
Dr. Donar Rau hat an der Freien Akademie für Medien & Journalismus am Kompaktkurs Journalismus teilgenommen.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. München: Luchterhand 2021. 32 Seiten, 5 Euro.
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