Das Gesicht eines Flüchtlings prägt sich uns über die Medien ein. Gehen wir kurz in uns, erscheint ein Bild vor unserem inneren Auge. Dabei sind Erfahrungen der Generationen mit Mustern unterlegt. Ein Mitzwanziger wird eine andere Vorstellung haben als ein Greis, der Erfahrungen des Krieges und der Flucht als Standbild seiner Biografie erfährt. Perspektiven sind nicht beliebig umtauschbar, aber vergleichbar.
Die Perspektive gekonnt umzudrehen, gelingt Thomas Vinterberg in der Serie Families Like Ours – Nur mit Euch (ARD-Mediathek). Angesiedelt in seiner Heimat Dänemark, werden Schicksale der Flucht verarbeitet. Aber diesmal sind die Flüchtlinge keine aus den üblichen Ländern, sondern aus Dänemark selbst. Die Katastrophe ist nur ansatzweise sichtbar. Vinterbergs Bildsprache hält Regen und Pfützen vor, anstatt Fluten und das Bersten von Dämmen. Das Land wartet auf die Überschwemmung, deren Unausweichlichkeit über Radio und Fernsehen angekündigt wird. Monate noch, und Dänemark wird von der Landkarte verschwinden. Die Regierung lässt die Grenzen schließen und startet die Evakuierung. Fortan winden sich die Menschen im Scheitern und Gelingen des Überlebens.
Das Abwägen von Ressourcen und Möglichkeiten bestimmt das Leid der bald Heimatlosen. Die Frau des Architekten spricht Französisch, er hat Berufserfahrung. Könnte es doch Paris werden? Hat jemand einen anderen als den nunmehr wertlosen dänischen Pass? Schafft ein Fußballtalent den Eintritt in eine Kaderschmiede im Ausland? Könnte Stipendienvergabe der Rettungsschlüssel für die verliebten Abiturienten sein? Wer konnte schon vorher seine Schäfchen ins Trockene bringen?
Die Katastrophe zerstört noch vor ihrem Eintreffen nicht nur den Wohlstand. Sie ist Vorbote der Auflösung familiärer Bindungen, von Gewalt als Machtmittel, dem Entschwinden von Solidarität, der Zermürbung. Die Verzweiflung der Menschen, ihre Kniffe, Schwächen und Anteilnahme offenbart die Gemeinsamkeiten vieler Flüchtlinge: der Verlust des Sozialen, Verbindenden. Die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sprachen, die noch gelernt werden müssen.
Zielländer sind besonders Rumänien und Polen, die nun in Verkehrung der Realitäten Aufnahmeländer vormals wohlhabender Nordeuropäer werden. Die Unbarmherzigkeit, der sie begegnen, führt die Drastik ihrer Erlebnisse vor. Dabei unterscheiden sich die Erfahrungen der Dänen nur graduell von herkömmlichen, realen Flüchtlingen. Weshalb sollte es ihnen auch besser ergehen? Die Krise formt den Umgang. Die Nöte formen die Forderungen.
Die Empfindung, die der Regisseur als Leitmotiv wählt, ist die Liebe. Die Liebe des Kindes, Vater und Mutterliebe, Verliebte, Lieblose und Szenen ohne Liebe. Wenn das Haus verlassen werden muss, die Arbeit verloren geht, das Auto nichts mehr nutzt, Gläubiger einen jagen, die Banken schließen. Diese Elemente ergeben die Durchsichtigkeit des Kokons der Story. Der Blick wird frei für den Mittelpunkt: Die Serie wird von den erstklassigen Schauspielern über das Stärkste aller Gefühle getragen.
Thomas Vinterberg benötigt keine Klimadebatte, keine Wirtschaftskritik, keine Moral der Gesättigten, um die Vorstellung der Schicksale zu meistern. Die Handlungen führen zu Verkettungen. Die Verkettungen zu einer Dynamik des Elends. Das Elend zur Ausweglosigkeit. Die Ausweglosigkeit zur Hoffnung.
Die Parabel aus Dänemark lässt Raum zum Weiterdenken, denn ob eine Überschwemmung, ein Krieg oder Existenznot der Grund für die Flucht sind, die Fragen bleiben gleich: Was geschieht mit den Menschen, welche Verwandlung vollzieht sich, sobald das Ankommen in ein neues Land glückt? Welche Verpflichtungen ergeben sich auf beiden Seiten? Dabei kommen auf der Filmbühne auch die Werte und Vorstellungen der Geflüchteten sowie ihr Vorleben zur Geltung. Der Verlust von Lebensstandards und Gewohnheiten rückt die Perspektive der Geflüchteten in unsere Lebenswelt: Die Identifikation des westlichen Zuschauers mit den Geflüchteten ist das Wesentliche des Perspektivwechsels.
Der Schriftsteller Stefan Heym erläuterte 1994 in seiner Rede im Bundestag als Alterspräsident: „Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten, entschulden wir sie. Nicht die Flüchtlinge, die zu uns dringen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.“ Heym kannte Flucht und Leid, wenn auch im Vergleich in privilegierter Form. Seine Perspektive ist jedoch von Wichtigkeit, denn allzu oft wird vergessen, welche Auslöser einen Menschen in die Flucht treiben. Flucht ist nie freiwillig, sonst hieße sie anders. Einem Menschen wünscht niemand ernsthaft Erfahrungen der Flucht. Aber im Kleinen geben Wechsel der Perspektive doch Möglichkeiten der Reflexion. Das schafft Vinterberg mit seiner Serie.
Families like Ours – Nur mit Euch. Regie: Thomas Vinterberg. Folge 1 der Serie lief am 21. Februar 2025 im ARD-Nachmittagsprogramm. ARD-Mediathek, seit 1. Februar 2025
Apostolos Katsikaris hat im März 2025 am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.
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