Es ist ein Privileg. Ich sitze auf der Terrasse meiner Ferienwohnung in der Mecklenburgischen Seenplatte. Urlaub, eine Auszeit. Vor mir Bäume, Wiese und Acker. Vögel zwitschern, in der Ferne bellt ein Hund. Knapp 200 Einwohner hat Minzow – der Ort, an den ich mich zurückgezogen habe. Als ich diesen Text zu schreiben beginne, meldet sich das iPad. Nein, ich möchte nicht mit dem persönlichen Hotspot des Mobiltelefons verbunden werden. Mal nicht ständig online sein. WLAN gibt es hier nicht. Ein paar Tage nicht der Flut von Mitteilungen über Krieg und schlechte Politik ausgeliefert sein. Den mentalen Akku aufladen. Kein Kriegskanzler, sondern ein Schwarm angriffslustiger Mücken sind das einzige Ärgernis gerade. (Wobei mir die Mücken lieber sind.) Genug Zeit zum Lesen. Ein gutes Buch über die Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu verstehen.
Das hier war früher mal ein Bauernhof. Mehrere Generationen haben hier Geschichte geschrieben. Als Kind war ich in den Ferien oft hier, bei den Großeltern. Auf dem Land hatte man jede Menge Tiere. Ich erinnere mich an Hühner, Kaninchen, Schweine und Kühe. Zwei Weltkriege sind über den Ort hinweggezogen. Die Ferienwohnung war früher mal ein Stallgebäude, erbaut 1932. Uropa war Bauer, nach dem Krieg folgten Enteignung und Eingliederung in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG. So hießen die Großbetriebe der DDR-Agrarwirtschaft, geschaffen nach dem Vorbild sowjetischer Kolchose. Nach der Wende Zurückübertragung des Eigentums, allerdings in schlechtem Zustand. Reparaturstau allenthalben. Viel Arbeit für meinen Vater, der hier groß geworden ist und eine besondere Bindung zum Hof hatte. Anfang der 2010er Jahre dann sprang die Verantwortung auf mich über. Großeltern waren nicht mehr da, Vater auch nicht. Aber der Ort ist voller Erinnerungen und vermittelt mir immer ein Gefühl von „abschalten können“. Ganz so wie früher als Kind in den Ferien. Sicher, ich war nicht untätig: ein neues Nutzungskonzept, Sanierung, Vermietung. Aber es blieb auch persönlicher Rückzugsort. Bei der 600-Jahrfeier gab es einen Festumzug in Minzow, bei dem die wechselhafte Geschichte des Ortes lebendig dargestellt wurde.
Ein Ort, wo einen keine Propaganda erreicht, egal von welcher Seite. Es regiert vor allem Natur. Obst- und Haselnussbäume sowie zwei riesige Eichen, allesamt älter als ich, könnten interessante Geschichten erzählen. Ob der Russe 2029 kommt, wie sogenannte Militärexperten in Endlosschleife raunen? Keine Ahnung, hier war er jedenfalls schon mal. Ich erinnere mich dunkel an die Geschichten meiner Uroma. Aufeinandertreffen in Kriegszeiten, schwierig, aber weit weg von dem, was wir heute beispielsweise von russischen Soldaten in der Ukraine glauben sollen. Nachts ist es ruhig, kein Auto zu hören. Das einzige Geräusch ist manchmal der Wind, der um die Ecken pfeift.
Am nächsten Abend ein Spaziergang durch das Dorf. Postkartenidylle mit blauem Himmel und Kornfeld. Vorbei an der ehemaligen Schule, dem Kindergarten, der Post, der Gaststätte und dem Konsum. Alles das gab es früher hier. Nach der Wende war damit Schluss. Heute muss man für alles in das sieben Kilometer entfernten Röbel fahren. Wir betreten das Gelände der Dorfkirche von Minzow. 1862 wurde dieses für den kleinen Ort imposante Bauwerk errichtet. Ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs steht hier. Darauf eingraviert die Namen der Soldaten, die aus Minzow stammen und ihr Leben im Krieg verloren. Kriegstüchtige Mittzwanziger. Wieder schließt sich ein Kreis in die Gegenwart. Die Namen Kiesewetter oder Pistorius würden hier nicht stehen. Sterben müssen immer andere.
Es gibt ganz sicher noch viel mehr zu erzählen. Und das nur von diesem kleinen Dorf. Mecklenburg hat viele davon. Ich denke, jeder sollte so einen Ort haben. Einen Ort der freien Gedanken. Einen Platz abseits des digitalen Informationsüberflusses und des 24-Stunden-Hamsterrads. Suchen wir ihn von Zeit zu Zeit auf, um gegen die zu bestehen, die uns in all das hineinzwingen.
Mirko Jähnert hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht. Er lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern.
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