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Replik | 13.11.2025
Müssen wir mehr arbeiten?
Eine Replik zum Artikel „Mehrarbeit“ von Axel Klopprogge, gestern veröffentlicht in der Kolumne Oben & Unten.
Text: Ulrich Gausmann
 
 

Mit der angeblichen Notwendigkeit, mehr zu arbeiten, ist es wie mit dem Weihnachtsmann. Jeder weiß, dass es ihn nicht gibt, und trotzdem kommt er regelmäßig vorbei – vor allem in Wahlkämpfen und Wirtschaftsdebatten. Nun also Axel Klopprogge. Er argumentiert, dass wir tatsächlich mehr arbeiten müssten – nicht notwendigerweise mehr Wochenstunden, aber länger im Leben und vor allem produktiv statt in der Bürokratie. Liegt er beim Bezug zum Mehrwert-Konzept noch richtig, kommt er beim Problem des Mehrprodukts ins Schlingern. An heißen Eisen kann man sich die Finger verbrennen. Sicherheitshalber bleibt man lieber innerhalb der kapitalistischen Logik und naturalisiert deren Zwänge, statt die entscheidende (Marx'sche) Frage zu stellen: Wem gehört das Mehrprodukt, und wer entscheidet über seine Verwendung?

Der direkte Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht die Produktion der Ware, sondern des Mehrwerts oder des Profits (...). Die Arbeit selbst ist von diesem Standpunkt aus nur produktiv, soweit sie Profit oder surplus produce [Mehrprodukt] für das Kapital schafft. (MEW 26.2, 548)

Klopprogges Argumentation blendet die Produktivitätsentwicklung seit Bismarcks Rentenversicherung 1889 aus. Über 150 Jahre wuchs die Arbeitsproduktivität durchschnittlich um zwei Prozent jährlich – eine Vervielfachung um den Faktor 20 bis 30. In der Nachkriegszeit lag das Wachstum sogar bei drei bis fünf Prozent pro Jahr: 5,9 Prozent in den 1950ern, 4,3 Prozent bis 1973, selbst in den 1980ern noch 2,2 Prozent.

Ein Beschäftigter stellt heute in derselben Zeit ein Vielfaches dessen her, was sein Urgroßvater produzieren konnte. Marx' zentrale These war genau diese: Steigende Produktivität sollte die notwendige Arbeitszeit reduzieren und mehr Freiheit schaffen. Durch gesteigerte Produktivkraft der Arbeit mit derselben Arbeitsausgabe in derselben Zeit mehr zu produzieren, nannte Marx relativen Mehrwert. Es sinkt der Wert der Ware Arbeitskraft und die notwendige Arbeitszeit verringert sich eben auch. Klopprogge schreibt:

Wenn wir etwas Außerordentliches bewerkstelligen wollen, müssen wir mehr arbeiten.

Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Die Gesellschaft ist reicher denn je. Das Problem liegt nicht im fehlenden Mehrprodukt, sondern in dessen Verteilung. Und dieses Mehrprodukt stammt – na, woher wohl? Aus produktiver Arbeit. Eben. Übersetzt: Während die Wirtschaftsleistung pro Kopf massiv stieg, erhielten Arbeiter und Angestellte einen immer kleineren Anteil. Die Gewinne flossen nicht in produktive Investitionen, sondern in Finanzspekulation. Das wurde schon im 19. Jahrhundert erkannt:

Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen. (MEW 25, 405)

Die Reallöhne bestätigen das Bild: Zwischen 1991 und 2019 stiegen sie lediglich um 12,3 Prozent, obwohl die Nominallöhne um 60,7 Prozent zulegten. Besonders drastisch ist die Phase der Lohnmoderation 2000 bis 2009: Die Reallöhne sanken kontinuierlich, zwischen 2003 und 2007 durchschnittlich um ein Prozent pro Jahr. Deutschland stärkte seine „Wettbewerbsfähigkeit“ durch Lohndumping – auf Kosten der Beschäftigten und europäischen Nachbarn. Und aktuell? Das muss ich nicht näher ausführen, oder?

Vermögenskonzentration: Das Spiegelbild der Ausbeutung

Die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte halten heute mehr als 70 Prozent des Nettogeldvermögens, während die vermögensärmere Hälfte aller Haushalte über weniger als ein Prozent verfügt. Dieser Trend setzt sich ungebremst fort.

Die Gleichung „Staatsschulden = künftige Generationen müssen mehr arbeiten“ ignoriert: Schulden sind Forderungen innerhalb einer Gesellschaft, keine ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Das wusste schon Keynes. Investive Schulden (Infrastruktur) erhöhen die Produktivität künftiger Generationen. Private Vermögensakkumulation ist das Spiegelbild der Staatsschulden.

Die Frage ist nicht, ob „wir“ (wer ist das?) uns etwas „leisten können“, sondern wer die Ressourcen kontrolliert. Das gilt auch in Zeiten der Kriegswirtschaft, in die wir unverrückbar eingetreten sind.

Ja, 1889 lag die Lebenserwartung unter 50 Jahren, heute bei 80 Jahren. Aber warum ist trotz vervielfachter Produktivität kein kürzeres Arbeitsleben möglich?

Die Produktivitätssteigerungen würden es problemlos erlauben, sowohl länger zu leben als auch kürzer zu arbeiten. Die Frage ist nicht „Können wir länger arbeiten?“, sondern: „Müssen wir, obwohl wir so viel produktiver sind?“ Klopprogges Naturalisierung – ein Drittel „wird wohl müssen“ – verschleiert die Machtverhältnisse. Ausbeutung wird als Sachzwang verkauft. Nebelkerzen.

Kernproblem ausgeblendet: Kapitalverwertung

Es fehlt der Hinweis auf die Überakkumulation: Kapital sucht nach profitablen Anlagemöglichkeiten. Riesige Kapitalmengen in Finanzspekulation statt produktiver Investition. Riesige Rüstungshaushalte. Digitalisierung vernichtet Jobs, aber die Gewinne fließen in private Vermögen, nicht in gesellschaftliche Projekte oder kürzere Arbeitszeiten.

Aus marxistischer Sicht lautet die Antwort nicht „mehr arbeiten“, sondern: Die gesellschaftliche Arbeit anders organisieren, das Mehrprodukt anders verteilen. Demokratische Kontrolle über Investitionsentscheidungen statt Kapitalherrschaft. Weniger Profite für Kapital, mehr für Infrastruktur und kürzere Arbeitszeiten. Produktivitätsgewinne sollten zu weniger Arbeit führen, nicht zu Arbeitslosigkeit auf der einen und Burnout auf der anderen Seite.

Die berechtigte Bürokratiekritik („unproduktive Arbeit“ im Kapitalismus) greift zu kurz ohne Analyse der Eigentumsverhältnisse. Bürokratie ist oft Folge privater Eigentumsstrukturen: komplexes Steuerrecht zum Vermögensschutz, Compliance für Konkurrenz, aufwendiges Vertragsrecht aus Misstrauen. Katarina Pistor hat dazu in Der Code des Kapitals überzeugende Belege präsentiert. In demokratisch organisierten Strukturen würde vieles überflüssig.

Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die enormen Produktivitätssteigerungen der letzten 130 Jahre kamen nicht bei der Bevölkerung an. Während Lohnabhängige ein Vielfaches dessen produzieren, was frühere Generationen leisteten, sank ihr Anteil am Reichtum.

Infrastruktur, Sozialstaat und Investitionen scheitern nicht am fehlenden Mehrprodukt, sondern an dessen Verwendung. Die zentrale Frage bleibt unbeantwortet: Wem gehört das Mehrprodukt, und wer entscheidet über seine Verwendung? Statt zu fragen, warum bei immenser Produktivität nicht weniger gearbeitet werden kann, fordert Klopprogge mehr Arbeit. Eine nette Geschichte für Kinder und Kapitalisten – aber die Realität sieht anders aus.

Dr. Ulrich Gausmann ist Autor des Buchs Wirtschaft und Finanzen neu gedacht. Er hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht.

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Bildquellen: Teehaus in China, @Radomianin, CC BY-SA 4.0