„Wild nach einem wilden Traum“ ist der dritte Band der Trilogie „Biographie einer Frau“ von Julia Schoch. Im ersten Band „Das Vorkommnis“ wird eine Schriftstellerin beim Signieren ihrer Bücher von einer Frau mit der Behauptung angesprochen, sie hätten denselben Vater. Diese wenigen Worte verändern das Leben der Ich-Erzählerin. Mutterschaft, Adoption und andere Familiengeheimnisse kommen ans Tageslicht. Der zweite Band „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ erzählt von einer Frau, die nach 30 Jahren ihren Mann verlassen will. Sie erinnert sich an die rauschhaften Jahre der Verliebtheit, die gemeinsame Zeit an der Universität, die Zeit mit den Kindern und an die Zeit der Wendepunkte: das Verstummen, die Entfremdung – die Liebe vom Ende her gedacht. Alle drei Romane erzählen von zentralen Begegnungen einer Frau und sind autofiktional. In einem Interview sagt Julia Schoch: „Etwas aufzuschreiben heißt ja immer, etwas zu verwandeln. Echtes und Erfundenes vermischen sich.“ Man muss die drei Romane nicht nacheinander lesen. Jeder Roman erzählt aus einer anderen Perspektive und ist es wert, auch unabhängig von den anderen gelesen zu werden.
Aber nun zum dritten Band „Wild nach einem wilden Traum“. Der Roman beginnt mit dem Satz: „Ich setze noch einmal an, an einem anderen Punkt.“ Die Ich-Erzählerin erhält als Schriftstellerin ein Stipendium für den Aufenthalt in einer Künstlerkolonie im Nordosten der USA. Dort lernt sie „den Katalanen“ kennen. Auch er ist Schriftsteller – beide haben soeben ihr erstes Buch veröffentlicht. Sie beginnt eine Affäre mit dem Katalanen, obwohl er ihr gar nicht besonders gefällt. Er ist weder schön noch elegant noch hat er etwas Athletisches an sich. An einem seiner Eckzähne fehlt ein Stück, und er trägt ein Piercing an seiner Unterlippe. Trotzdem fühlt sie sich vom Katalanen stark angezogen. Bereits nach dem ersten Kuss und der ersten Nacht ist sie fast wie von ihm besessen – der Wahn der Liebe. Und eigentlich hat sie ja einen Mann. Sie sagt über ihr Leben: „Ich bin einfach weiter und weiter gegangen, vielleicht sogar gerast, wie ich auch in die Liebe gerast bin, und irgendwann, später, dreht man sich um und ist erstaunt.“
Inspiriert durch den Katalanen, erinnert sie sich an eine andere (Liebes-)Geschichte in ihrem Leben. Sie war 12 Jahre alt und traf im Wald auf einen Soldaten. Über diese Geschichte hat sie weder mit dem Katalanen noch mit ihrem Mann gesprochen. Manchmal bedarf es anderer Menschen, um Dinge wieder an den Tag zu bringen. In der Künstlerkolonie schreibt sie nun ihre Geschichte mit dem Soldaten auf. Immer wieder hatte sie den Soldaten im Birkenwald ihrer damaligen Heimatstadt in Mecklenburg-Vorpommern aufgesucht. Nach dem Militärdienst wollte er Literatur studieren. Sie näherte sich dem Soldaten – oder er sich ihr? Sie vertraute sich ihm an und er gab ihr Ratschläge, wie man Schriftstellerin werden kann: „Man muss wild danach sein, wild nach einem wilden Traum.“ Der Kuss ihres Handgelenks glich einer Verneigung. Als sie mit der Mutter aus der Siedlung wegzog, reagierte der Soldat mit den Worten: „Ich werde sterben ohne Dich.“
Lange Zeit fragt sich die Erzählerin, welche Teile der Erinnerung stimmen und welche sich im Laufe der Jahre angereichert oder wie von selbst ergänzt haben. Nachdem sie die Geschichte aufgeschrieben und gelesen hat, fragt sie sich das nicht mehr. Mit einem Mal gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Erinnerung und Erzählung – beides verschmilzt vollkommen.
Schriftsteller sind besondere Menschen, gibt ihr der Katalane mit. Sie sind durchlässiger, sie spüren die vergangene Zeit und sie spüren die Zukunft. Man kann als Schriftsteller in verschiedene Charaktere, Arbeitsfelder und Zeiten schlüpfen, am Ende schlüpft man doch immer nur in sich selbst.
Ein kurzes Winken mit der Hand – das war der Abschied vom Katalanen. Das Ende der Geschichte, das Ergebnis eines bestimmten Moments in ihrem Leben. Zwanzig Jahre später besucht sie mit ihrem Sohn New York und holt die Erinnerungen aus der Zeit mit dem Katalanen wieder hervor. Was wäre gewesen, wenn sie damals mit dem Katalanen gegangen wäre? Ihr Leben wäre ein anderes geworden. Jede Lebensphase hat ihre Ereignisse und Begegnungen und vieles erkennt man erst rückblickend.
Mit ihrer einfachen, schwungvollen Sprache erzählt Julia Schoch davon, dass wir im Leben unterschiedliche Rollen einnehmen und nie wissen, was wir für andere sind. Es geht um die Liebe und darum, dass die Erinnerung an die Liebe intensiver sein kann als die Liebe selbst. Erst die Erinnerung macht das Leben lebendig. Leben findet nur statt, wenn man darüber erzählt. Dieser Gedanke trägt den Leser unterhaltsam und anregend durch die drei Bücher der Trilogie.
Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum. Roman. dtv 2025. 176 Seiten, 23 Euro.
Julia Schoch wuchs in Mecklenburg am Oderhaff auf. Sie studierte Romanistik und Germanistik in Potsdam, Paris und Bukarest. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin übersetzt sie aus dem Französischen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Mit ihrer Familie lebt sie in Potsdam.
Nach einer langen Managementkarriere widmet sich Sabine Keuschen ihrer Leidenschaft für Literatur und arbeitet in einer Buchhandlung.
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