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Buch-Tresen | 31.10.2024
Jonathan Coe: Middle England
Beständigkeit, Vertrautheit, Kontinuität – das ist es, was die Älteren wollen. Sie wählen den Brexit und ernten die Verachtung der Jungen und des Establishments.
Text: Beate Broßmann
 
 

„Middle England“ ist der dritte Teil eines Gesellschaftsromans des 1961 geborenen Briten Jonathan Coe. Er spielt im Zeitraum 2010 bis 2019 in Birmingham und spiegelt die politischen Ereignisse und deren Reflexion anhand einer Familiengeschichte. Im Unterschied zu Philip Roth, der ebenfalls ein Chronist seiner Zeit war, allerdings im amerikanischen Mittelschichtsmilieu, arbeitet Coe weniger mit psychologischen Tiefenanalysen, die die Tragik in den Lebensläufen seiner Protagonisten herausarbeiten. Coe schrieb einen politischen Roman. Die politischen Ereignisse in den zehn Jahren und die Verfallserscheinungen in der britischen Gesellschaft, insbesondere die Deindustrialisierung, stehen im Vordergrund, und das Figurenensemble dient lediglich der fiktionalen Einbettung und Illustrierung.

Ein Chronist ist ein neutraler Berichterstatter. Er stellt gesellschaftliche Verhältnisse und ihre Wirkungen sachlich-poetisch dar, verzichtet aber auf eine Parteiname. Das ist Coe auf ca. 200 Seiten gelungen. Er fängt die Auffassungen der Menschen anhand verschiedener Personen sehr gut ein. Der linksliberale Journalist in der Familie, Doug, beispielsweise diagnostiziert kurz vor der Parlamentswahl 2010 die Lage folgendermaßen: Die Leute seien sauer, wütend und ratlos.

Die Wähler sehen diese Typen in der City, die vor zwei Jahren praktisch die Wirtschaft zerstört haben und dafür nie irgendwie belangt worden sind (…), und jetzt streichen alle wieder ihren Bonus ein, während die anderen den Gürtel enger schnallen sollen. Die Gehälter sind eingefroren. Die Leute haben keine sicheren Arbeitsplätze, keine Altersvorsorge, sie können sich keinen Familienurlaub leisten und ihr Auto nicht reparieren lassen. Vor ein paar Jahren haben sie sich noch wohlhabend gefühlt. Jetzt fühlen sie sich arm.

Sie haßten das finanzielle und politische Establishment, das sie ausgesaugt hatte und ungeschoren davongekommen war. Die Mittelschicht empöre sich, weil ihr alles entgleite. Vertreter unterschiedlicher Schichten und Ethnien eine das tiefgreifende Gefühl, von böswilligen unsichtbaren Kräften herausgepickt worden zu sein, schlecht behandelt und benachteiligt zu werden. Ihr Zorn wird von jedem autoritären oder auch nur belehrendem Auftreten geschürt – selbst in solch übersichtlichen Lehranstalten wie einer Fahrschule. Der zweiundfünfzigjährige Schriftsteller Benjamin ist davon überzeugt, daß Großbritannien in seiner Kindheit „geschlossener, vereinter und einmütiger“ gewesen war. Mit der Wahl 1979 und der Ära Thatcher habe ein kontinuierlicher Prozeß der Auflösung begonnen, der bis heute anhält und sich gerade zu verschärfen scheint.

Nach dieser Bestandsaufnahme läßt Coe seine Familienmitglieder (fast) alle Aspekte der neuen Zeit am eigenen Leib erfahren. Benjamins Nichte Sophie, Kunstdozentin an einer Universität, wird von einer Studentin denunziert. Der universitäre Ausschuß stellt eine Mikroaggression fest und suspendiert Sophie auf unbestimmte Zeit. Die Denunziantin ist auf dem Weg, sich zu „trans-gendern“. Ein alter Freund Sophies ist schwul und hat Mühe, seinen Schwiegereltern in der englischen Provinz Akzeptanz abzuringen. Tagelang randalieren und plündern autochthone und farbige Jugendliche in Birmingham und anderen Teilen Englands. Dougs linksextreme Tochter Coriander beteiligt sich enthusiastisch daran. Das Motto „Nichts als Terror und Randale“ gefällt ihr. Offiziell wird von Rassenkonfrontation gesprochen. Benjamins Vater Colin und Sophies Schwiegermutter Helena äußern sich rassistisch, wie die linksliberale Sophie deren aus Zorn und Ohnmacht geborenen Auffassungen interpretiert. Colin wünscht sich, die Kontrolle über die Grenzen wiederzugewinnen. Und Helena fragt verzweifelt:

Wo soll das enden, Sophie? Wo sollen diese schrecklichen Dinge bloß enden?

Und fügt hinzu:

Er hatte ganz recht. ‚Ströme von Blut‘. Er war der Einzige, der den Mut hatte, es auszusprechen.

Die Rede ist vom konservativen Politiker Enoch Powell, der 1968 in Birmingham eine Rede hielt, die seine politische Karriere beendete:

Wir müssen verrückt sein, buchstäblich verrückt, wenn wir als Nation den jährlichen Zustrom von etwa 50.000 abhängigen Personen zulassen, die zum größten Teil das Material für das künftige Wachstum der von Einwanderern abstammenden Bevölkerung sind. Es ist, als würde man einer Nation zusehen, die eifrig damit beschäftigt ist, ihren eigenen Scheiterhaufen aufzuschichten (…) Wenn ich nach vorne schaue, bin ich von Vorahnungen erfüllt. Wie der Römer scheine ich ‚den Tiber von viel Blut schäumen‘ zu sehen.

Die zweite Hälfte des Romans beschäftigt sich mit den Wirren des Brexits und den von der unerwarteten Entscheidung der Wählerschaft vollkommen überforderten Politikern. Und ab dann kann der Autor offenbar nicht mehr an sich halten. Er ergreift Partei für die Vernunft oder das, was er dafür hält. Die Begriffe „Gender“, „Wokeness“ und „Cancel Culture“ tauchen im Buch nicht auf, aber „Rassismus“ und „Political Correctness“ werden fortan als Kampfbegriffe verwendet. Coe schlägt sich auf die Seite von Sophie, die selbst nach ihrer unbegründeten Suspendierung bestreitet, daß es politische Korrektheit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gebe. Sie hält diese Disziplinierungsmaßnahme für eine Erfindung von Bösmeinenden und trennt sich von ihrem Mann, dem Fahrlehrer Ian, der auf der falschen Seite, nämlich auf der der Brexitiers, steht. Auf Ians Behauptung, die Atmosphäre an der Universität sei toxisch, antwortet sie, es sei nur ein Mißverständnis gewesen und sie verstehe nicht, was verrückt daran sein soll, „Respekt für Minderheiten zu haben“. Ian prophezeit, daß „Leave“ bei der Brexit-Wahl gewinnen wird: „wegen Leuten wie dir“ und dem „moralischen Überlegenheitsgetue“ von ihresgleichen.

Und dann fällt dem Leser auch auf, daß auf keiner der vielen Seiten von einem Phänomen die Rede ist, das für den Austritt der Briten aus der EU nicht unbedeutend war: dem Islamismus. Drei arabische Namen werden genannt, aber nur im Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen der Underdogs: Die drei hätten Geschäftsläden vor der Plünderung beschützen wollen und seien dabei getötet worden. Islamismus existiert bei Coe schlicht nicht. So ist es natürlich einfach, die Ablehnung bestimmter Migrantengruppen durch das schlichte Volk als unbegründet oder eben rassistisch darzustellen. Wenn Migranten in der Handlung vorkommen, sind sie aus dem Baltikum oder Südosteuropa.

Sophie hofft auf die Verschmelzung der Kulturen. Sie entspannt sich und genießt den Gang durch die Stadt im Gemisch von spärlich bekleideten Engländerinnen und „den schwarzen Umrissen der vollverschleierten Frauen“. „Die bunte Mischung, die London seinen modernen Charakter verlieh“, findet sie „herrlich“. Die „engen Fesseln von Blut oder Religion oder Nation abzustreifen“ hält Coe für eine gute Sache. Und jeder sollte die Freiheit haben, dort zu leben, wo er will.

Diese Bekenntnisse sind das Ergebnis der Überlegungen Benjamins, des alter Egos Coes, ob in Zeiten wie diesen ein Schriftsteller engagé zu sein habe oder in die innere Emigration flüchten solle. Meine Vorstellung und Erwartung, der Schriftsteller müsse ein neutraler Chronist sein, kommt Coe offenbar gar nicht in den Sinn.

Jonathan Coe: Middle England. London: Viking Books 2018, in deutscher Übersetzung Heyne 2023. 475 Seiten, 13 Euro

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT.

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