Mein Heimatland wird oft falsch verstanden. Sein Anderssein irritiert viele. Werte wie Familie und Heimat, Nation und Tradition, Christentum und Kultur wirken hierzulande wie aus der Zeit gefallene Worthülsen. Anders in Ungarn: Am 20. August, dem nationalen Feiertag, kamen Zehntausende am Budapester Donauufer zusammen, um das jährliche Feuerwerk mit Lasershow zu erleben. Am Himmel über dem Parlamentsgebäude und unseren Köpfen schwebten das Kreuz und die Krone der ungarischen Könige, Symbole der nationalen Identität. Das einst für fortschrittlich gehaltene Ungarn ist heute für viele Deutschen „undemokratisch, rückschrittlich, autokratisch“. Man könnte meinen, die wilden Tataren sind zurück, so Bence Bauer, Mitherausgeber des Magazins Hungarian Conservative, neulich in einem Beitrag. Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit in Budapest und sprach Mitte Oktober bei einem Kongress der Konservativen in Berlin.
Ungarn – selbsternannter Friedensmissionar, doch für die EU stets ein Störenfried – kauft russisches Gas und Öl, setzt auf Atomenergie, gendert nicht und schreibt sogar im Gesetz fest, die Mutter ist eine Frau und der Vater ein Mann. Zigeunermusik bleibt Zigeunermusik in Ungarn und Migranten sind nicht willkommen. Moment! Ministerpräsident Viktor Orbán sagte, Migranten aus dem Westen seien durchaus willkommen. Rossmann und DM machen sich gar nicht die Mühe, ihre Waren auf Ungarisch zu etikettieren. Ein Angebot, um die deutschen Migranten in die ungarische Gesellschaft zu integrieren? Oder eine subtile Förderung der deutschen Sprache in den Satelliten-Staaten der deutschen Wirtschaft? Der Satz „Bekämpft die Ursachen von Zahnfleischbluten“ auf der Zahnpastatube erhält durchaus nützliche Wörter für den Alltag. Tägliche Wiederholung beim Zähneputzen – vorausgesetzt, man hat die Rossmann-Lesebrille der geeigneten Stärke dazu – kann den Besuch eines Sprachkurses ersetzen.
Nach Migranten, die nicht aus dem Westen kommen, suchen sogenannte Grenzjäger, für die seit einiger Zeit an beinahe jeder Bushaltestelle im Land geworben wird. Mit lächelnden Burschen auf den Plakaten, mit denen auch Zahnarztpraxen ihr Zielpublikum ansprechen könnten – nur die Maschinenpistolen stören.
„Ungarn ist ein tolles Land, aber der Orbán!“, höre ich oft von Bekannten in Deutschland. Als „smart“ würde ihn keiner bezeichnen. Die konservative Regierung betreibt seit 14 Jahren eine souveränitätsorientierte Politik und stellt die nationalen Interessen in den Vordergrund. Aus westlicher Sicht provoziert, irritiert, kritisiert Orbán, bei seinen Reden ist Streit programmiert. Der unbändige, aufmüpfige, sture, korrupte und autoritäre Fußballspieler möchte sein Land wieder groß machen und damit Vorbild für andere sein. Dadurch wäre dann auch die EU „great again“. Doch die Mehrheit der EU-Politiker verweilt in ihrem Dornröschenschlaf. Sie gibt solche Phrasen von sich wie der CSU-Abgeordnete Thomas Silbernhof bei der oben erwähnten Konferenz in Berlin: „Wir stehen auf der Seite der Freiheit!“ oder „Wir kämpfen gegen die imperialen Mächte, Russland und China!“ Und sie zuckt nur dann zusammen, wenn Wolodymyr Selenskyj erneut an die Tür klopft, weil der Taurus immer noch nicht zur Lieferung freigegeben wird.
Aber nicht nur Orbán prägt das verzerrte Bild des Landes. Unser Möchtegern-Lawrow, Außen- und Handelsminister Péter Szíjjártó, wies den ZDF-Journalisten Armin Coerper in Sankt Petersburg am Rande des Gas-Forums in die Schranken: „Wir sind keine Jawoll-Nation.“ Es ist aus seiner Sicht das souveräne Recht jedes Landes zu entscheiden, auf welcher Hochzeit es tanzt.
Woher dieses Selbstbewusstsein der kleinen Sprachinsel östlich des Bauchnabels von Europa? Woher diese Aufmüpfigkeit gegenüber den Euro-Geldgebern?
Das Ungarn von heute unterscheidet sich vollkommen vom Ungarn der 1990er Jahre. Von westlichen Gesellschaften errichtete Oligopole fahren Gewinne ein, die laut Experten die Höhe der EU-Transferleistungen übertreffen. Deshalb wird in Ungarn die Forderung als falsch und erniedrigend wahrgenommen, man müsse für die EU-Gelder dankbar sein. Ungarn startete 2011 die Politik der sogenannten Öffnung nach Osten und Süden und nahm dabei Ost- und Zentralasien in den Blick. Es lässt sich davon auch nicht durch den russischen Einmarsch in die Ukraine abhalten oder durch die EU-Sanktionen gegen chinesische Elektroautos. Doch die Öffnung nach Osten ist kein Synonym für ein Verschließen gegenüber dem Westen. Ungarns „Perestrojka“-Modell heißt „Konnektivität“: Handeln statt Isolationismus, Pragmatismus statt Ideologie. Ungarns Politik ist interessenbasiert.
Damit ist auch Orbáns Friedensmission zu erklären. Das Land liefert Kiew keine Waffen. Einerseits, weil es die Ansicht des Westens nicht teilt, Frieden mit immer mehr Waffen zu erzwingen. Andererseits, weil die Ungarn aus der Geschichte gelernt haben. Und wie Orbáns Politstratege Balázs Orbán – dessen zweiter Name „Nichtverwandtmit“ ist – in Berlin ebenfalls bei der Konferenz der Konservativen erklärte: „Wir mögen die Idee nicht, in Blöcke aufgeteilt zu werden und keine Alternative zu haben. Für uns Ungarn ist das nicht gut.“ Doch zur Wahrheit gehört auch, dass das größte Munitionswerk in der EU in Ungarn gebaut wird. Und der Konzern Rheinmetall mit seinen neuen Werken in Ungarn spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neuer Kampffahrzeuge und Panzer. Butter kommt dagegen in ungarischen Familien fast nur noch an Feiertagen auf den Tisch, so teuer ist sie.
Bei Scholz´ „Zeitenwende“ zeigt sich Ungarn begriffsstutzig. An deren Folgen leidet die ungarische Wirtschaft, die stark von der deutschen abhängt. Allein der Verzicht auf russisches Gas löst eine ganze Lawine aus. Ungarn will nicht verstehen, warum die Deutschen in Bezug auf Russland plötzlich alles richtig machen wollen, wenn sie zugeben, dass sie bisher alles versemmelt haben. Vielleicht ist dieses Nichtverstehenwollen mit kulturellen Unterschieden zu erklären? Wo bleiben Gulasch-Idylle, Balaton-Romantik, Puszta-Flair? Der Klang der kuriosen Sprache, in der es sich gefühlt bei jedem dritten Wort um „Essbesteck“ handelt? In der sogar die Polizei anders heißt: Rendőrség. Manche wünschen sich die freisinnigen Öffner des Eisernen Vorhanges, die Vorreiter des Mauerfalls zurück. Den Geschmack des Szegediner Gulasch‘ – der übrigens auch anders ist, als das die Deutschen kennen. Jener mit Sauerkraut, wie in Deutschland bekannt, kommt von den Szeklern aus Transsylvanien – die Stadt Szeged hat ihre eigenen Spezialitäten. Aber schmecken tut’s trotzdem.
Die Konferenz der Konservativen Mitte Oktober in Berlin unter dem Titel „Transatlantische Partnerschaft – eine neue Ära“ zeugte ebenfalls davon, dass Ungarn tatsächlich anders ist. Ungarn sieht seine konservativen Werte gefährdet und will Veränderung. Eine EU ohne Orientierung, ohne politische Agenda, ohne Stärke ist für das Land an Donau und Theiß kein Maßstab. Es will Reformen und sucht seinen eigenen Platz in der aufkommenden multipolaren Weltordnung. Ungarn ist anders, als viele es in Deutschland sehen und wahrhaben wollen. Ich wünschte manchmal, Deutschland wäre auch mal anders.
Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.