„Schau mich an“, sagt Richard und lacht. „Farbe. Das ganze Jahr.“ Richard ist Ende 60, nicht schlank, aber auch nicht dick. Er trägt Shorts und ärmellos. Auf dem Weg zu seinem Pick-Up zieht er den linken Fuß leicht nach. „Ihr habt Glück“, sagt er. „Vorige Woche war es hier noch eiskalt. Selbst tagsüber nur acht Grad. Im Januar und im Februar haben wir geheizt. Das hatten wir noch nie. Im November waren wir noch schwimmen.“
Richard ist seit fast 20 Jahren auf Nordzypern. Erst nur im Urlaub und vielleicht auch geschäftlich. Ganz klar wird das nicht. „Solange du arbeiten musst, hängst du zu Hause fest.“ Richard hat in London gewohnt, nicht weit weg vom Flughafen in Heathrow. Neun Stunden von Tür zu Tür. Neun Stunden von England bis nach Nordzypern, über Larnaka im Süden der Insel und dann noch eine Stunde mit dem Auto, die Grenzkontrolle mitgerechnet. Der Norden hat zwar einen Airport in Ercan, dafür braucht es aber einen Zwischenstopp in der Türkei. So will es die EU, so will es die Welt. Das Auswärtige Amt in Berlin spricht von der „sogenannten Türkischen Republik Nordzypern“. Richard sagt: Das ist lästig. Sein Visum gilt immer nur für 90 Tage. Oder er stellt daheim einen Antrag für länger. „Für mich wäre es besser, wenn ganz Zypern in der EU wäre.“
In Brüssel sieht man das so. Die Insel gehört zu uns, Punkt. Von dort sieht man das türkische Kriegsschiff nicht, das direkt vor uns im Hafen von Famagusta liegt. Von dort sieht man auch Varosha nicht, eine Geisterstadt vor den Toren Famagustas. Der perfekte Drehort für die nächste Staffel von „The Walking Dead“, wenn die Häuser nicht jeden Augenblick einstürzen könnten. Varosha: Das war in den 1960ern der feuchte Traum jedes Tourismusmanagers. Sandstrand, soweit das Auge blicken kann. Hotels, Theater, Kinos. 6500 Betten. Ein Laden am anderen. Jeder zweite Zypernurlauber war damals in Varosha. Im August 1974 kamen Soldaten aus der Türkei. Es ging hin und her auf der großen Bühne. Wer entschädigt die Griechen, die vertrieben wurden, wer darf hier wohnen, wem gehört die Stadt? Varosha hat das nicht verkraftet. Die Fenster kaputt, der Putz längst weg. Und die Natur fängt an, die Gebäude zu verdrängen. Die Türkei hat immer wieder versucht, den UN-Sicherheitsrat umzustimmen, zuletzt 2021. Lasst uns Menschen nach Varosha bringen. Vergeblich. Inzwischen sind drei Straßen für Besucher geöffnet. Es gibt einen Verleih für Fahrräder und Roller und neuerdings sogar wieder zwei Strände mit allem Drum und Dran. Es bleibt – gespenstisch. Schwimmen vor Ruinen. Und wer weiß. Im Moment ist das alles noch klein. Zwei, drei Kioske, bargeldlos. Ein paar Liegen, saubere Toiletten. Die Großmächte haben gerade andere Sorgen.
Die Spritztour mit Richard beginnt in einem Gemüsemarkt. Genauer: in einer Lagerhalle, die auch in Varosha stehen könnte. Am Boden Kisten mit Blumenkohl, Mandarinen, Kartoffeln. Man kann die Erde noch riechen. „Das schmeckt alles wie früher“, sagt Angela, Richards Partnerin, wie er aus England. Kennengelernt haben sich die beiden hier auf der Insel. Früher hat Angela Urlauber betreut. Heute vermietet und putzt sie Ferienwohnungen. „Wenn ich in so eine Birne beiße“, sagt sie, „dann erinnere ich mich an meine Kindheit.“
Wir fahren die Küste ab von Tatlisu nach Girne. Die Griechen sagen: Kyrenia. Ein historischer Ort, besiedelt seit Tausenden von Jahren und mit einem Hafen, der kaum kitschiger sein könnte. Die Gegenwart heißt Baustelle. Überall Bagger, überall Menschen mit Helmen und Westen in Orange. Palästina, Bangladesch. Überhaupt: Ostasien. Richard liebt es, die Hauptstraße zu verlassen und mit dem Pick-Up über die alten Küstenwege zu rollen. Er kennt die Stories hinter all den neuen Siedlungen, die wie Pilze aus dem Boden schießen und oft noch wie Skelette aussehen, betongrau und nicht weiß und manchmal ganz offensichtlich auch aufgegeben, bevor jemand einziehen konnte. „Sie verkaufen dir immer: erste Reihe und Meerblick. Du siehst zwar, dass es noch ein Stück ist bis zum Wasser, aber sie sagen: Da wird nie und nimmer gebaut. Das gehört der Regierung. Und ein Jahr später hast du plötzlich doch jemanden vor deiner Nase.“
Der Boom ist in Etappen gekommen. Seit dem EU-Beitritt der Republik Zypern 2004 ist die „grüne Linie“ durchlässig. Das heißt: Man ist nicht mehr gefangen im Norden der Insel und gezwungen, über die Türkei zu gehen, wenn man ausreisen will. Die taz sprach damals schnell von einer „kalten Enteignung“. Im Artikel von Klaus Hillenbrand, erschienen 2005, klingt das fast so wie heute aus dem Mund von Richard: „Die Immobilienhändler rund um Kyrenia erzählen ihren Kunden alles, was diese hören möchten.“ Die Griechen könnten zurückkommen? Kein Problem. Ein paar tausend Euro Entschädigung, wenn überhaupt. Man muss nicht das Ende der DDR erlebt haben, um da ein Fragezeichen zu setzen.
Auf Zypern sind die Wunden der Teilung nicht verheilt, auch nach einem halben Jahrhundert nicht und obwohl die Bauleute inzwischen überall Tatsachen schaffen, ohne sich noch groß um die Vergangenheit zu scheren. 162.000 Zyperngriechen, sagt Wikipedia, haben den Norden verlassen, als die türkische Armee im Sommer 1974 einrückte, manche freiwillig, die meisten aber nicht. Die gleiche Quelle sagt, dass anschließend 48.000 Zyperntürken ihre Heimat im Süden aufgeben mussten. Den Groll haben wir schon am Flughafen in Larnaka gespürt, selbst bei dem Forscher, der nur ein paar Sachen zu unserer Reise wissen wollte und enttäuscht aufgab, als wir bei jedem Ort den Kopf schüttelten. Den Norden hatte er nicht auf seinem Zettel.
Rami, ein Taxifahrer, Zyperntürke, will trotzdem sofort in den Süden ziehen, wenn er endlich EU-Bürger ist. „Dort lebt es sich einfach besser. Ruhiger.“ Und die Preise? „So groß ist der Unterschied gar nicht mehr. Obst und Gemüse, okay. Es stimmt schon, dass die Griechen zum Einkaufen rüberkommen. Sie wandern dann umher und schauen nach ihren Häusern.“ Rami sagt, dass der Norden sich gerade verändert, und meint damit gar nicht Einwanderer wie Angela und Richard, die vielen Russen in Iskele oder Zyperngriechen, die gern wieder da wohnen würden, wo einst ihre Eltern oder Großeltern gelebt haben, sondern Türken, die vom Festland kommen und eine andere Mentalität mitbringen. Der Bauboom produziert auch Wohntürme für Menschen aus Anatolien. Vielleicht gibt es irgendwann wieder eine Abstimmung wie 2004, als der Norden für eine Wiedervereinigung war, der Süden aber nicht. Vielleicht gewinnt dann der, der mehr Menschen an die Urnen bringt. Rami sagt, dass er Zyperntürken kennt, die jetzt fortgehen. Sie wollen nicht mehr warten. Und sie haben keine Lust auf das, was gerade passiert.
Richard zuckt mit den Schultern. Was soll schon sein? Er hat auf der Insel alles ausprobiert. Hotels und Apartments, mal kürzer, mal länger. Vor ein paar Jahren hat er eine Wohnung mit Garten gekauft, in einer Anlage direkt am Meer. Der Blick auf den Sonnenuntergang kann von niemandem verstellt werden. 90 Quadratmeter für etwas mehr als 100.000 Pfund. Man hört, wenn der Nachbar spült, das schon, aber was willst du, Michael? Du weißt doch, was man dafür in London bezahlt oder in München. Wir fahren an dem Supermarkt vorbei, der gerade eröffnet wurde, 15 Autominuten entfernt, gut sortiert und vor allem: leer. „Hier musst du nicht um einen Parkplatz kämpfen oder sogar dafür bezahlen wie neuerdings bei uns in England. Hier fährt dir auch keiner mit seinem Einkaufswagen in die Hacken.“ Und wenn all die Neubauten verkauft oder vermietet sind? „Dann wird die Straße besser und der Rest der Infrastruktur auch.“
Heike ist aus Halle an der Saale nach Nordzypern gekommen, mit einem Umweg über die Schweiz, wo sie einen kleinen Friseursalon hatte. Verkauft, mit einer Träne im Auge. Aber die Nachfolgerin, einst bei ihr angestellt, macht das gut, sagt sie. Heike weiß noch nicht, ob sie wieder anfangen soll. Beim Friseur in Kyrenia sitzen nur Männer. Sie freut sich auf ihren ersten Sommer am Mittelmeer und auf das, was vor ihrem neuen Haus wachsen wird. „Die meisten Pflanzen habe ich noch nie gesehen.“ Deutschland? Heike zieht nur die Augenbrauen hoch. In der Auswanderer-Community ist das kein Thema. Anders gesagt: Man ist sich einig. Corona, der Krieg, die Inflation. Das muss nicht mehr rauf- und runterdiskutiert werden. Auf Telegram gibt es Tipps, Kontakte, Treffpunkte. Auch jemanden, der das Sofa nimmt, das die alten Besitzer dagelassen haben. Mag die EU ruhig glauben, dass ihr ganz Zypern gehört. Im Norden gibt es keine Windräder und keine Strohhalme aus Papier. Der Deckel klebt nicht an der Flasche fest, und der Liter Benzin kostet weniger als einen Euro.
Torsten lockt das alles immer wieder hierher, immer in das gleiche Hotel. „Die Leute sind alle so herzlich“, sagt er. Aber hier leben? Torsten schaut sich um, das schon. Grundstücke, Häuser, Wohnungen. Die Preise gehen weit auseinander. Man kann wie Richard etwas am Meer finden für kleines sechsstelliges Geld, aber auch leicht eine Million ausgeben oder noch mehr. Torsten hat inzwischen ein Konto bei einer kleinen einheimischen Bank. „Die Kreditkarte gibt es für 50 Cent.“ Nordzypern ist für ihn ein Plan B. Wobei: Eigentlich hat er zu Hause schon alles durch. Hausdurchsuchung, Existenzvernichtung, Verleumdung bis in die internationale Presse. „Ich mache nur noch das, worauf ich Lust habe“, sagt er. Mit alten Motorrädern durch die Gegend fahren. Freunden und Verwandten helfen, Nordzypern zu genießen. Vielleicht siedelt er eines Tages ganz um, vielleicht auch nicht. Jeder Ostdeutsche in seinem Alter weiß, dass ein Loch in der Mauer unbezahlbar ist.
Richard, den Rentner aus London, haben wir noch oft von weitem gesehen – im Schatten auf seiner Terrasse, neben sich eine Katze. Einmal ist er mit dem Fahrrad in Richtung Meer gefahren, aber nicht dorthin, wo auf der Karte Sandstrand steht und in Wirklichkeit alles voller Müll ist. Baden oder „Fish and Chips“ genießen mit Landsleuten in seiner Lieblingskneipe. Dort sprechen auch die Kellner Englisch, anders als sonst. 30 Jahre Isolation hinterlassen selbst da ihre Spuren, wo die Briten bis 1960 die Macht waren und nicht nur den Linksverkehr dagelassen haben oder ihre komischen Steckdosen. An den Dorsch daheim, das hat Richard uns gleich zur Begrüßung gesagt, kommen sie hier auf Zypern ohnehin nirgendwo heran.
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