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Lebensgeschichten | 08.12.2025
Ich bin Russin!
Vera kam 1998 aus Russland nach Neubrandenburg. Sie spricht über ihr Leben, eine Reise in die alte Heimat und die Situation in Deutschland.
Text: Mirko Jähnert
 
 

Sie sind in der Sowjetunion groß geworden.

Geboren wurde ich im Ural, im Oblast Perm. Oblaste sind in Russland Regionen, ähnlich wie in Deutschland die Bundesländer. Dort bin ich in einer Kleinstadt zur Schule gegangen. Anschließend bin ich nach Tschaikowski gezogen, eine größere Stadt, um Medizin zu studieren.

Tschaikowski? Der Komponist?

Ja, genau. Peter Tschaikowski wurde in der Nähe dieser Stadt geboren, in Wotkinski. Es gibt ein sehr schönes Museum dort.

Bildbeschreibung Bild: Vera in Tjumen

Zurück zu Ihnen.

Nach anderthalb Jahren musste ich das Studium abbrechen. Ich konnte kein Blut sehen und habe die Gerüche der Substanzen und Desinfektionsmittel nicht vertragen. Ich bin arbeiten gegangen und habe an einer Fernuni Pädagogik studiert. Als Lehrerin habe ich 110 Rubel im Monat verdient, ohne Überstunden. Umgerechnet 330 DDR-Mark. Damals war ich verheiratet und hatte zwei Kinder. In den Sommerferien habe ich in einer Kaffee-Bar gesehen, dass eine Hilfskraft für 250 Rubel im Monat gesucht wurde. Das war das Doppelte meines bisherigen Lohnes. So habe ich dann in der Bar angefangen und dort meinen späteren Mann kennengelernt, einen Deutschen. Er hat hier an der Erdgastrasse Druschba gearbeitet. Das war 1988.

Bildbeschreibung Bild: Screenshot aus dem Film Gorbatschow und Gödelitz von Ralf Eger.

Eine spannende Zeit. Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost.

Er hat Russland verkauft. Für mich ist das wie bei einem Schiff. Wenn das Schiff sinkt, wer geht zuerst von Bord? Tut mir leid, ich sehe das so. Ich habe im Sozialismus nicht schlecht gelebt. Es ist eigentlich das Beste für normale Menschen. Du hast Sicherheit gehabt. Medizin, Schule – alles war kostenlos. Die medizinische Versorgung war besser. Heute gibt der Arzt nur Symptome in den Computer ein. Und das Schulsystem – jedes Kind wurde entsprechend seiner Fähigkeiten eingeschult und entwickelt.

Ich habe in Russland als Erzieherin gearbeitet. Wir haben uns mit den Kindern noch beschäftigt und viel gesprochen, Lieder gesungen und Gedichte gelernt, also richtig gefordert und gefördert. Wir haben darauf geachtet, dass sie möglichst früh auf den Topf gehen und aufhören zu nuckeln. Das ist hier in Deutschland nicht so, und das regt mich auf. Kein Wunder, dass die Logopädien überfüllt sind.

Bildbeschreibung Bild: Die Kremlmauer im Oktober 2019.

Der Sozialismus war dann plötzlich aber vorbei. Wie erging es Ihnen dann?

Wir haben 1990 standesamtlich geheiratet. Mein Mann hatte ein zeitlich begrenztes Arbeitsvisum, das dann auch zu Ende war. Wir haben uns mit einer Fleischerei selbständig gemacht, so konnte ich ihm immer wieder ein Arbeitsvisum ausstellen. Wirtschaftlich wurde es in den 1990ern sehr schwierig, auch mit unserer Selbständigkeit. Manchmal gab’s kein Schweinefleisch, manchmal kein Rindfleisch. Ich konnte ganz gut improvisieren, aber mein Mann nicht so. Die Deutschen können das nicht so. Und sie sind dickköpfig. 1998 haben wir dann gesagt, so geht es nicht weiter. Wir versuchen unser Glück in Deutschland.

Warum sind Sie ausgerechnet nach Neubrandenburg gekommen?

Mein Mann ist hier geboren und zur Schule gegangen. Das Arbeitsamt wollte mir eine Arbeit an einer Schule geben. Ich habe gesagt: Ich spreche kaum Deutsch und soll an einer Schule arbeiten? Seid ihr noch bei Verstand? Dann wollten sie mich in eine Kita vermitteln. Aber da sind die Kinder noch kleiner und saugen alles wie ein Schwamm auf, was der Erzieher sagt und tut. Am Ende gibt es dann Probleme, weil sie meinen Akzent übernehmen. Ich wollte wegen meiner nicht perfekten Sprache nicht mit Kindern arbeiten. Als ich später mein Enkelkind zu einer Kita gebracht habe, dachte ich mir: Wie blöd war ich eigentlich? In Deutschland kann jeder an einer Kita arbeiten, auch wenn er die deutsche Sprache nicht beherrscht. In Russland wäre sowas nicht möglich. Ich habe dann bei einer Bäckerei angefangen und dort 19 Jahre gearbeitet.

Bildbeschreibung Bild: Lenin in Tjumen

Was waren für Sie die wichtigsten Unterschiede im Vergleich zu Ihrer Heimat?

Wenn wir Russen Wort geben, stehen wir dazu. Egal ob schriftlich oder mündlich. Was wir sagen, wird eingehalten. Das ist in Deutschland leider nicht so. In Russland sagen wir zu jedem offen, was wir denken, direkt ins Gesicht. Die Deutschen reden häufig hinter dem Rücken über einen. Deswegen hatte ich oft Auseinandersetzungen mit Kollegen.

In Russland sagen wir: Arbeit schadet nicht. Das heißt, es ist egal, welche Arbeit du tust. Es ist genug Arbeit da, jeder kann arbeiten. Die Deutschen möchten viele Arbeiten nicht machen, beispielsweise als Reinigungskraft. Da bleiben einige lieber faul zu Hause. Das Rentensystem ist hier ungerecht. In Russland können Frauen mit 60 und Männer mit 63 Jahren in Rente gehen. Wenn du einen schweren Job hast, beispielsweise mit Schichtarbeit oder in der Chemieindustrie, sogar schon nach 25 Arbeitsjahren.

Bildbeschreibung Bild: Moskau 2015

Haben Sie Russland regelmäßig besucht?

Ja, ich war regelmäßig bei meiner Familie, alle zwei, drei Jahre. Nach 2019 ging es wegen Corona nicht. Ich konnte erst dieses Jahr wieder hin. Durch die Sanktionen ist es schwieriger geworden. Früher konnte man von Berlin nach Moskau fliegen und dort umsteigen. Diesmal mussten wir mit dem Bus von Berlin nach Kaliningrad und von dort mit dem Flugzeug nach Perm. In Polen haben wir elf Stunden an der Grenze gestanden. Einige haben ihren Flug verpasst. Ich hatte zum Glück eine Übernachtung in Kaliningrad eingeplant.

Wie wird in Russland über Deutschland und die Politik gesprochen?

Sie haben mich gefragt: Na, Vera, wie läuft es in Deutschland? Das ist immer etwas sarkastisch gemeint. Die ganze Welt lacht über Deutschland, egal wohin man kommt. Leider hat sich Deutschland gegenüber meiner Heimat zu einem feindlichen Land entwickelt.

Und was denken Sie?

Wenn ich an die Politik denke, werde ich wütend. Bundeskanzler Merz hat für BlackRock gearbeitet. Die haben Aktienanteile an Rüstungsunternehmen. Deswegen wollte er Taurus liefern und macht Schulden für die Aufrüstung. Und wer zahlt das nachher? Wir, die blöden Steuerzahler.

Wie kam es Ihrer Ansicht nach zum Krieg in der Ukraine?

Wir sagen dazu nicht Krieg. Was Israel in Gaza macht, ist Krieg. Als die russischen Soldaten aus Deutschland abgezogen sind, hat die Nato versprochen, sich nicht weiter auszubreiten. Sie haben ihr Wort gegeben. Ich hatte schon erwähnt, dass das für uns Russen verbindlich ist. Und was haben sie gemacht?

Dann 2014 das Minsker Abkommen. Es war ein Fehler von Putin, Merkel zu glauben. Acht Jahre Diplomatie haben nichts gebracht. Es ging nur darum, Zeit zu gewinnen, damit die Nato die Ukraine aufrüstet und ausbildet. Dann haben Sie Militärübungen gemacht, direkt an der russischen Grenze. Sowas ist eine Provokation. Warum immer wieder gegen Russland? Ich denke, weil Russland viele Bodenschätze hat. Das ist anderen ein Dorn im Auge.

Bildbeschreibung Bild: Grab von Boris Jelzin auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau.

Wie sehen die Russen ihr Land? Demokratie oder Diktatur?

Keiner denkt an Diktatur. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, meine Bekannten und Verwandten, stehen alle hinter Putin. Sie sind froh, dass Putin an der Macht ist. Nach dem kalten Krieg waren wir von den USA abhängig. Sie haben sogar unsere Verfassung geschrieben. Seit Putin Präsident ist, hat er viel für die Menschen getan. Zum Beispiel steigen jedes Jahr die Renten. Er wollte noch viel mehr machen, aber in der Duma sitzen Leute, die das teilweise verhindern. Ich denke, solche Leute sind von den USA gekauft. Viele sind käuflich geworden. Früher in der Sowjetunion war das nicht so, Geld stand nicht an erster Stelle. Mit dem Zerfall der Sowjetunion haben sich die Prioritäten geändert.

Ist Korruption ein großes Problem?

Korruption gibt es in jedem Land. Denken Sie nur an Robert Habeck. Für mich ist das ein Mafia-Clan. Ein Politiker, der seine ganze Sippe reinholt. Das sind Zustände wie in Italien. Ich weiß, in Deutschland ist man es nicht gewohnt, das so offen zu sagen.

Hat sich Ihr Leben mit dem Ukrainekonflikt verändert?

Der Kontakt nach Russland ist schwieriger geworden. WhatsApp funktioniert kaum noch.

Ich meinte der Umgang der Menschen mit Ihnen.

Wenn ich bei der Arbeit mit jemanden spreche, hören sie meinen Akzent und fragen, woher ich komme. Ich sage dann: Was willst du hören? Ich bin Russin! Hast du ein Problem damit? Aber die Leute, mit denen ich Kontakt habe, stehen hinter Russland und nicht hinter der Ukraine. Ich hatte noch keine negativen Erfahrungen, eher Verständnis. Viele sagen, jemanden wie Putin bräuchten wir in Deutschland auch. Ich kenne einige, die von Deutschland nach Russland auswandern.

Stellen Sie sich vor, Sie dürften für einen Tag Bundeskanzlerin sein und dürften drei Entscheidungen treffen. Was würden Sie machen?

Erstens die Kontakte zu Russland verbessern. Freundschaft schließen und das Land mehr dem Osten zuwenden. Zweitens das Gesundheitssystem und das Schulsystem radikal verändern. Darüber haben wir ja gesprochen. Und drittens das Rentensystem. Jeder, der später eine Rente oder Pension bezieht, muss in die Rentenkasse einzahlen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mirko Jähnert hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht. Er lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern.

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Bildquellen: Metro in Moskau 2012. Foto: Gerd Eichmann, CC BY 4.0, Vera (Tjumen, Meyen (Moskau)