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Buch-Tresen | 01.05.2025
Geistesfürsten, menschlich
60 Jahre nach der Erstveröffentlichung sind „Die Mandarins von Paris“ wieder da – ein großes Buch, leicht retuschiert ins Woke-Deutsche.
Text: Walter van Rossum
 
 

Nehmen wir ein Foto, das im Juni 1944 im Atelier des Malers Pablo Picasso in Paris aufgenommen wurde. Darauf erkennen wir unter anderen den Gastgeber – umrahmt von Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Michel Leiris und Jacques Lacan. Die künstlerisch-intellektuelle Elite jener und vieler kommender Jahre. Diesen Herrschaften und noch einigen anderen begegnen wir wieder auf einer Weihnachtsfeier im Dezember 1944. Allerdings als Helden des Romans „Die Mandarins von Paris“ von Simone de Beauvoir, der 1954 erschien. Das Buch wurde umgehend als Schlüsselroman verstanden. Man glaubte hinter den fiktiven Personen die realen Vorlagen zu erkennen. So könnte Jean-Paul Sartre der Figur des Robert Dubreuilh seine Konturen geliehen haben, in Henri Perron vermutete man Albert Camus. Und Simone de Beauvoir scheint sich als die Psychoanalytikerin Anne Dubreuilh – Gattin von Robert – selbst porträtiert zu haben. Da ist was dran, doch die Ähnlichkeiten sind mit Vorsicht zu genießen. In Wahrheit hat de Beauvoir die Lebenden und die Fiktiven ziemlich bunt und quer miteinander verschnitten.

Es geht um die Momentaufnahme einer Berufsgruppe, die es tatsächlich mal gegeben hat und von der heute nur ein verwaschener Name übriggeblieben ist: die Intellektuellen. Zur Erinnerung: Intellektuelle haben als Wertarbeiter der Aufklärung die Bühne der Zivilisation betreten und spielten fast 200 Jahre lang eine zentrale Rolle im sogenannten Geistesleben. Ihre Aufgabe ergab sich aus einem Defizit der Aufklärung selbst. Das Licht der Aufklärung produziert zwar kluge Protokolle eines analytischen oder experimentellen Wissens, aber es weist keine Lebenswege. Unsere Lebensentscheidungen treffen wir im Horizont unableitbarer Werte, die wir selbst gesetzt haben. In der Nachfolge der Religionen stiften Intellektuelle belastbare Erzählungen für individuelle und kollektive Werte: Überzeugungsgründe. Insofern entstammen sie meist einem philosophisch-literarischen Milieu. Sie sind die Agenten und Kronzeugen des Umstands, dass wir ständig im Nebel unableitbarer Werte handeln. Ob man die Demokratie schätzt oder an die Ehe glaubt – alles Verhandlungssache, für die Intellektuelle mehr oder minder komplexe Vorschläge machen.

Unsere Gegenwart ist gekennzeichnet durch die weitgehende Abwesenheit von Vorschlägen dieser Art. Sie wurden ersetzt durch expertenhaft toupierte Ratgeber oder die Routinen des Rudels. Das versteht man vielleicht dann besser, wenn man „Die Mandarins“ gelesen hat. Denn dieser Roman erinnert an Zeiten, da Intellektuelle einen beträchtlichen Einfluss hatten und gelegentlich wie Stars verehrt wurden.

Simone de Beauvoir erzählt nicht von Helden. Die Mandarins im Titel sind eher ironisch gemeint. Sie erzählt von ratlosen und suchenden Fürsten des Geistes. Weihnachten 1944 feiern sie die Befreiung von Paris, der Krieg ist noch nicht zu Ende, aber die Niederlage der Deutschen absehbar. Doch vor ihnen liegt eine Zukunft, der sie nicht gewachsen sein werden – wie sie nach und nach begreifen. „Die französischen Intellektuellen stecken in einer Zwickmühle“, erklärt einer der Gäste.

Ihre Kunst, ihr Denken werden nur dann weiterhin von Bedeutung sein, wenn es einer bestimmten Kultur gelingt, fortzubestehen. Wenn sie diese aber retten wollen, werden sie ihrer Kunst und ihrem Denken nichts mehr zu geben haben.

Zur Rettung ihrer Kultur mischen sie sich in die Politik ein. Doch die Sphäre des Politischen verengt sich auf die Wahl zwischen den USA und der Sowjetunion. Verzweifelt gründet Robert Dubreuilh eine Partei, die den dritten Weg sucht. Der Schriftsteller Henri Perron stellt seine Zeitung in den Dienst dieser Partei. Die Sache wird nicht einfacher, als das Ausmaß der sowjetischen Arbeitslager und die Verbrechen Stalins bekannt werden. Bricht man deshalb mit dem Glauben an einen reformierbaren Kommunismus oder begibt man sich in die Hände der parafaschistischen Amerikaner? Und welchen Sinn hat es noch zu schreiben, wenn die Arena von ideologischen Großmächten besetzt ist? Die Karten sind längst gemischt. Dubreuilh und die Seinen erkennen im Laufe jener Jahre, dass ihre Stimmen bald marginal sein werden. An der Definition von Realitäten haben sie allenfalls symbolisch teil.

Doch die Mandarins führen nicht bloß politische Debatten. Der Roman verfolgt die Lebenswege einer Reihe von Pariser Intellektuellen in den Jahren 1944 bis 1949. Dabei spielen die verschlungenen Pfade der Liebe und der Paarungen eine nicht unerhebliche Rolle. Die Libertinage dieser Kreise geht weit über die sexuellen Freiheiten unserer Tage hinaus. Nebenbei bemerkt: In der Realität ging es noch viel bunter zu, als der Roman zu erzählen wagt. Doch auch für dieses Terrain gilt die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Das Leben ist eine Baustelle. Und der Intellektuelle ist nicht Vordenker für andere, sondern sucht im Tumult der Umstände immer auch sich – auch wenn er sich darin verlieren kann.

Vor den „Mandarins“ hatte Simone de Beauvoir bereits drei Romane veröffentlicht. 1949 erschien die umfangreiche Studie „Das andere Geschlecht“. Ein bahnbrechendes Werk, das den Ruhm der Autorin zunächst eher schädigte als mehrte. Simone de Beauvoir hat mehrfach erklärt, dass sie sich erst sehr viel später als Feministin verstanden und engagiert habe. Die Frauenfrage war für sie Teil eines großen gesellschaftlichen Umbruchs. Insofern ist eine feministische Lesart des Romans, wie Nicole Seifert sie in ihrem Nachwort vorschlägt, ziemlich abwegig. Anne Dubreuilh – die durchaus Züge der Autorin trägt – schildert sich selbst als emanzipierte Frau. Aber von ihren Dramen und denen ihres Geschlechts erzählt sie mit Sicherheit nicht aus feministischer Sicht, sondern als Frau auf der Suche nach sinnlicher Liebe. Auf einer USA-Reise verliebt sie sich unsterblich in einen amerikanischen Schriftsteller. Drei Jahre lang lebt sie zerrissen zwischen Paris und Chicago. Das Scheitern dieser Beziehung bringt sie an den Rand ihrer Lebenskraft.

Der Roman „Die Mandarins“ erzählt vom beginnenden Verschwinden einer Kultur, in der das Wort noch so etwas wie geistige Nahrung sein konnte. Darin erinnern uns von Zeit zu Zeit Phantomschmerzen: das Jucken der Spiritualität.

„Les Mandarins“ lautet der Titel im Original. 1955 folgte die deutsche Übersetzung, deren schaurige Qualität die literarische Reputation de Beauvoirs auf Jahrzehnte festigte. Trotzdem wurde die deutsche Ausgabe etwa 400.000 mal verkauft. Aus Anlass seiner Erstveröffentlichung vor 60 Jahren beschloss der Rowohlt-Verlag eine Neuübersetzung. Amelie Thoma und Claudia Marquardt haben den Ton des Originals meist erstaunlich gut getroffen. Allein die kurze Nachbemerkung der Übersetzerinnen lässt einem den Atem stocken. Man habe sich entschlossen, das „aus heutiger Sicht diskriminierende Vokabular“ zu entschärfen. Einen Roman von Simone de Beauvoir ins Woke-Deutsche zu retuschieren, lässt darauf schließen, dass weder der Verlag noch die Übersetzerinnen das Geringste von dieser Schriftstellerin und ihren Botschaften verstanden haben.

Bildbeschreibung

Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris. Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Claudia Marquardt. Reinbek: Rowohlt 2024, 1024 Seiten, 45 Euro.

Walter van Rossum, Jahrgang 1954, promovierter Romanist, hat sich einen Namen gemacht mit dem Buch „Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre: Die Kunst der Nähe“ (2001) und dann mit zwei Büchern früh ein großes Publikum erreicht: „Meine Sonntage mit Sabine Christiansen“ (2004) und „Die Tagesshow: Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“ (2007). Als freier Autor hat er vier Jahrzehnte lang für zahlreiche Leitmedien gearbeitet. „Meine Pandemie mit Professor Drosten“ und „Die Intensiv-Mafia“ (mit Tom Lausen“ wurden 2021 Spiegel-Bestseller. Seine Talkshow „The Great WeSet“ erschien zunächst im Rubikon und seit 2023 auf Manova.

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Bildquellen: Simone de Beauvoir and Jean-Paul Sartre 1955 in Peking. Foto: Liu Dong'ao