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Oben & Unten | 11.12.2024
Geist und Stein
Ein feuchter Traum, in dem ich mir vorstelle, eine halbe Stunde das für mich allein zu haben, was eigentlich uns allen gehört.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, die üblicherweise von Touristen überquellende Kirche San Vitale in Ravenna frühmorgens für mich allein zu haben. Ich atmete die Atmosphäre eines Gebäudes ein, das seit 1500 Jahren für den Zweck benutzt wird, für welchen es einst gebaut wurde. Von etwas ähnlichem träumte ich jetzt, als die Kathedrale Notre-Dame in Paris nach fünf Jahren des Wiederaufbaus und der Restaurierung eingeweiht wurde: In aller Stille langsam umherlaufen, auch durch die technischen Konstruktionen klettern. Dann würde ich mich irgendwo in eine Bank setzen und meinen Gedanken nachgehen. Was ist das Besondere dieser Kirche? Warum hatte am 15. April 2019 selbst der Tagesschau-Sprecher einen Kloß im Hals? Warum musste man so viel Aufhebens um ein Feuer machen? Warum so viele Mittel zur Wiederherstellung aufwenden bis hin zur Bearbeitung neuer Eichenbalken mit mittelalterlichen Techniken? Warum das alles in einem laizistischen Staat und in einer Zeit, in der Christentum und Kirche an Bedeutung verlieren?

Der Bau der gotischen Kathedralen war das Silicon Valley des Mittelalters: technische Leistungen, die ständig zu Verbesserungen führten und die Grenzen des Machbaren hinausschoben. Die Ausgrabungen und Restaurierungsarbeiten nach dem Brand führten vor Augen, mit welcher Kunstfertigkeit die unterschiedlichsten Gewerke ineinandergriffen – von der Gewinnung und Vorbereitung der Blöcke im Steinbruch über die gewagten und nie vorher realisierten Baukonstruktionen bis hin zur Ausgestaltung von Skulpturen, Malereien und Glasfenstern.

Die Gotik bedeutete gleichzeitig die Emanzipation vom ästhetischen Diktat der römischen Antike. Die Romanik versuchte bis ins 12. Jahrhundert, die Formensprache römischer Bauten fortzuführen. In Rom selbst wurden noch um das Jahr 1200 Kirchen wie Santa Maria in Cosmedin gebaut, die aussehen wollten wie die frühchristlichen Kirchen der Spätantike – mit aus antiken Ruinen zusammengeklaubten Säulen und Kapitellen, von denen kaum zwei zusammenpassten. Es half den Italienern nichts, dass sie den neuen Stil als „gotisch“, das heißt barbarisch beschimpften. Auflösung der Mauern zu Wänden aus Licht und Farben, bisher unvorstellbare Höhen von Kirchenschiffen, komplizierte Kreuzrippengewölbe, Maßwerk und Strebewerk – der neue Stil und die Bautechnik ließen alles Bisherige alt aussehen.

Bisher schrieb man die unterschiedlichen Stile von Notre-Dame verschiedenen Bauphasen zu. Jetzt weiß man, dass zur gleichen Zeit verschiedene Werkstätten tätig waren. Steve Jobs, Elon Musk und Jeff Bezos des Mittelalters. Sie standen im Wettbewerb zueinander und befruchteten sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Sie wanderten von Baustelle zu Baustelle und trugen nicht nur die neuesten Techniken durch Europa, sondern auch die Fähigkeit, überhaupt so große Projekte zu bewältigen. Weg und Wirken des Naumburger Meisters, eines der bedeutendsten Künstler des Mittelalters, kann man an den Kathedralen von Noyon, Amiens, Reims, Metz, Mainz und schließlich Naumburg nachverfolgen.

Die spektakulären gotischen Kirchenbauten wurden nicht mehr abgelegen in ländlichen Klöstern und nicht mehr als Kapellen königlicher Pfalzen errichtet. Sie entstanden vielmehr in den Städten, die mit Handwerkern und Kaufleuten zu neuen Machtzentren wurden. In vielen Fällen schüttelten sie den Bischof als Stadtherren ab und erkämpften sich die Selbstverwaltung. Das Wort „Bürger“ (oder citoyen, cittadino, citizen) meinte ursprünglich nur den Städter. Künstler wie der Naumburger Meister schufen in diesem Kontext eine bis dahin ungekannte und bis heute atemberaubende Individualität der dargestellten Charaktere. Mit Uta von Naumburg wollte Umberto Eco gerne einen Abend verbringen.

Zu derselben Zeit, als Abt Suger in Paris die ersten Elemente der Gotik als regelrechtes Programm konzipierte, vollzog sich an den Kathedralschulen der Île-de-France nichts Geringeres als die Neuerfindung des rationalen Denkens. Kathedralschulen dienten eigentlich der Klerikerausbildung. Jetzt wurden sie zum Ursprung der Universitäten. Allen voran die Kathedralschule von Notre-Dame in Paris. Wir kennen die Namen der Pioniere, ihre Schriften und ihre Auseinandersetzungen. Einer der frühesten und berühmtesten Lehrer war Petrus Abaelardus. Sein Leben glich einem Krimi mit siegreichen Disputationen und der Liebesbeziehung zu Eloise, mit Verfolgung und Kastration, mit der Flucht ins Kloster Cluny und der Rückkehr nach Paris, wo Wissenshungrige aus ganz Europa wie Otto von Freising, Johannes von Salisbury und drei spätere Päpste zu seinen Füßen saßen. Auch das gehört zu dieser Geschichte: Nach ihrem Tod wurden Abaelard und Eloise wie ein Paar nebeneinander beerdigt, und ihre Schriften finden sich friedlich vereint mit denen ihrer erbitterten Gegner in den 217 Bänden der Patrologia Latina.

An den neuen Universitäten wurden die antiken Philosophen rezipiert, ebenso muslimische und jüdische Gelehrte. Der Geist des radikalen Diskurses, in dem nichts gilt außer der Ratio, äußert sich in Abaelards Satz:

Niemand kann widerlegt werden außer aufgrund des Zugestandenen, und er darf nur durch das überzeugt werden, was er annimmt.

Nicht in Laboren, sondern an den Kathedralschulen der Île-de-France entstand die Vorstellung der Naturgesetzlichkeit der Welt, die bis heute die Wissenschaft und unser Denken prägt.

Die geistige Revolution lässt sich kaum von der gleichzeitigen künstlerisch-technischen Revolution trennen. Jedenfalls begann man rasch, mit der neuen Denkmethode zu arbeiten, etwa in den Reiseberichten der Franziskanermönche, die zur selben Zeit, als Notre-Dame gebaut wurde, als Gesandte und Kundschafter zum mächtigen Mongolen-Khan nach Karakorum reisten. Erstmalig in der Weltgeschichte brachten sie realistische Informationen aus dem Fernen Osten zurück. Einer von ihnen, Wilhelm von Rubruk, hatte an der Universität in Paris studiert. Dort hatte er wohl gelernt, was er am Hof des Groß-Khans einsetzte: Im Jahre 1254 organisierte er mit den dort präsenten Moslems, Juden, Christen, Buddhisten und Hinduisten ein Religionsgespräch, bei welchem nicht die heiligen Schriften galten, sondern nur das rationale Argument, das von den anderen akzeptiert wurde.

Das alles würde mir bei meinem einsamen frühmorgendlichen Besuch in Notre-Dame durch den Kopf gehen. Nebenbei würde ich die Franzosen ein wenig bewundern. Man kann – gerade in diesen Tagen – viel Kritisches über die Abgehobenheit und Arroganz der Absolventen französischer Eliteschulen sagen. Aber ein bisschen neidisch bin ich schon auf eine Elite, die noch genügend Bildung besitzt, um die Bedeutung dieses Gebäudes zu verstehen und die es obendrein schafft, trotz Corona ein spektakuläres Bauprojekt zeitgerecht in fünf Jahren zu vollenden.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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