Private John Bartle kehrt nach zehn Monaten Einsatz körperlich unversehrt aus dem Irak nach Amerika zurück. In die Einsamkeit einer Berghütte geflohen, versucht er zu rekapitulieren, wie er sich als Einundzwanzigjähriger verhalten und was er empfunden hat. Anlaß und Symbol der Abrechnung mit sich selbst und der Psychologie des Krieges ist seine Freundschaft mit einem achtzehnjährigen Einsteiger in das Tötungswesen. Sie hatten sich im Rekrutierungsbüro kennengelernt. Der Roman ist die Geschichte dreier Männer: Bartle, Murphy und Sergeant Sterling, erzählt aus Bartles Ich-Perspektive.
Ich hätte es damals nicht in Worte fassen können, aber man hatte mich darauf gedrillt, den Krieg als großen Vereiner zu sehen, der die Menschen enger zusammenschweißt als jedes andere Ereignis auf Erden – vollkommener Unsinn, denn der Krieg bringt unzählige Solipsisten her-vor: Wie wirst du heute mein Leben retten? Zum Beispiel durch deinen Tod, denn wenn du stirbst, wird mein Überleben etwas wahrscheinlicher.
Trotz des hierarchischen Verhältnisses pflegt der lebenskluge (oder sollte man treffender „todeskluge“ sagen?) Sterling ein – verbal rauhes – Verhältnis tiefer Verbundenheit mit den beiden Untergebenen. „Sie sind ab jetzt meine Jungs – alle beide.“ Er ist es, der sie immer wieder und ohne die geringsten Sentimentalitäten aufbaut, ihnen aber auch rücksichtslos und fast zynisch beibringt, daß sie alles vergessen sollten, was sie je über Krieg gehört haben, daß sie abgebrüht und manchmal grausam sein müßten, wollten sie überleben. Und nur darum ginge es.
Die Army bot Bartles, das räumt er ein, die Möglichkeit abzutauschen. Während alle anderen verrückt waren vor Angst, verspürte er vor allem Erleichterung. „Ich hatte begriffen, daß ich nie wieder eine Entscheidung treffen musste. Das empfand ich einerseits als befreiend, andererseits nagte es schon damals an mir. Wie ich erst später feststellen sollte, ist Freiheit nicht das Gleiche wie offiziell beglaubigte Verantwortungslosigkeit.“ Bartles verspricht Murphys Mutter widerstrebend, ihren Sohn heil nach Hause zu bringen. Doch er will ja eigentlich keine Verantwortung übernehmen, nicht einmal für sich selbst. Sterling macht ihm nachdrücklich – mit einem Faustschlag – klar, daß er dieses Versprechen nicht hätte geben dürfen. Und Bartles empfindet es jeden Tag auf‘s Neue als Last. Der Leser erfährt bald, daß er es nicht gehalten hat.
Der Krieg geht – absurderweise – seinen gewohnten Gang: Seit drei Jahren erobert die Army im Herbst eine mittelgroße Stadt und muß sie im Frühjahr wieder räumen.
Ich dachte an den Krieg meines Großvaters, ein Krieg, der Sinn und Zweck gehabt hatte. Ich dachte daran, daß wir morgen, wenn die Sonne im Osten tief über der Ebene hing, losmarschieren würden. Wir würden in eine Stadt eindringen, um die jährliche Schlacht zu schlagen; eine langsame, blutige Parade (…). Wir würden sie verjagen. (…) Wir würden sie töten. Sie würden auf uns schießen, uns verstümmeln und dann in die Hügel und Wadis fliehen, zurück in die staubigen Dörfer und Nester. Aber sie wären bald zurück. (…) Wenn wir durch die Straßen patrouillierten, warfen wir ihren Kindern, die uns auch bald bekämpfen würden, Süßigkeiten zu.
Zeit und Kraft zur Trauer um die Toten haben sie nicht. Nur Menschen, die sie kannten, wecken Verlustschmerz.
Alle anderen Toten in Al Tafar waren in unseren Augen Teil der Landschaft, so als hätte jemand Samen ausgestreut, die Leichen aus Erde, Staub und Bürgersteigen wachsen ließen wie Blumen nach dem Frost, kümmerlich und welk im Licht einer hellen, kalten Sonne.
Sie verwildern, agieren nur noch mechanisch und gleichgültig: Selbstschutz.
Murphy ist der Härte des Krieges nicht gewachsen. Je näher die Einschläge kommen, desto weiter zieht er sich zurück: von Bartles, Sterling und der ganzen Welt. Er kann sein Herz an keinen hängen, den er vielleicht schon morgen verliert. Diesen Verlust würde er nicht verkraften. Doch das ist kein Ausweg. Statt gefühllos zu werden, um die Brutalität aushalten zu können, erkrankt sein Gemüt. Er verliert die Orientierung, im doppelten Sinn, und verursacht damit seine grausame Ermordung durch den Feind. Bartles wird mit seiner Schuld nicht fertig. Er hätte ihn retten müssen, wenigstens vor sich selbst. Zurück in der Heimat, der Zivilisation, ist er unfähig, seine Form wiederzufinden, sich überhaupt in irgendeine Form hineinzufinden. Er grübelt, trinkt und verwahrlost.
Ich habe im Laufe der Zeit den Glauben an so etwas wie Sinn und Bedeutung verloren. Ordnung ist nur ein Schein, das Ergebnis eines Beobachtungsfehlers.
Überall scheint die Absurdität dieses und die Inkompatibilität jedes Krieges mit einem zivilisierten Leben durch. Aber Hyperzivilisation und -liberalität gebären Ungeheuer. Endlich von zu vielen Wahlmöglichkeiten und Identitätsdemonstrationen befreit! Endlich von Verantwortung und von sich selbst frei! Führer, befiehl! Ich folge. Und ich stelle keine Fragen. „Versprecht mir, daß ihr jederzeit gehorcht. Jederzeit, verdammt nochmal“, fordert Sterling von seinen beiden Jungs, und sie versprechen es.
Der Roman, hervorragend erzählt und partiell ins Lyrische gehend, legt seinen Akzent auf Aspekte des Krieges, die dem normalen Mediennutzer entgehen. Im Westen nichts Neues? Grundlegend Neues vielleicht nicht. Aber vollständig begriffen ist schon das Alte nicht. Für das Neue müssen wir uns wappnen – auch eine Tätigkeit, die aus dem Kriegshandwerk stammt – zum Beispiel mit solch einem Roman.
Kevin Powers: Die Sonne war der ganze Himmel. Frankfurt am Main: S. Fischer 2013 (US-Original 2012). 237 Seiten.
Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT.