Bulgarien zählt zu den Ländern mit der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerung weltweit. Jeder dritte Bulgare lebt im Ausland: drei von neun Millionen. Zum Vergleich: Im Osten Deutschlands hat die Bevölkerung seit 1990 um 15 Prozent abgenommen.
Größer als der Exodus der Menschen ist nur der der bulgarischen Esel, zumindest in relativen Zahlen. Gab es in den 1980ern noch 340.000 Esel im Land, sind es heute gerade mal 20.000. Anfangs wunderte ich mich, dass ältere Bulgaren vor mir niederknieten, wenn ich mit einem Esel quer durchs Land zog. Sollte es möglich sein, dass sie mich mit jemandem verwechselten? Vielleicht gar mit dem Heiland, der ja auf einem friedfertigen Esel in Jerusalem eingeritten war und nicht auf einem Pferd, das für Reichtum und Krieg steht? Es soll sogar ein Fohlen gewesen sein, auf dem niemand vor ihm saß. Schnell begriff ich, dass nicht ich es war, sondern meine Eselin, die den Alten die Tränen in die Augen trieb. Viele von ihnen hatten schon lange keinen Esel mehr gesehen. Ein Eselfohlen ist zu einer absoluten Rarität geworden in Bulgarien. Die im Land verbliebenen Esel sind entweder alt oder kastriert oder beides.
Wo sind all die Esel hin, die über 40 Jahre leben können und damit zehn Jahre länger als Pferde? Zusammen mit den Alten hat das „Pferd der Armen“ die bulgarischen Dörfer verlassen, wo einst praktisch jede Familie einen Esel hatte. So auch mein Onkel und meine Tante. Ihre Kinder, mein Cousin und meine Cousine, hatten schon vor der politischen Wende von ’89 den Ort verlassen und waren in die Städte gezogen. So wie mein Vater, der bereits in den frühen 1960ern ausgewandert war. Heute kann man in seinem Herkunftsort die Esel an einer Hand abzählen. Das Dorf im Nordwesten, der ärmsten Region des Landes, steht halb leer. Viele Häuser verfallen oder sind bereits in sich zusammengefallen.
Auch um auf diesen Exodus aufmerksam zu machen, begab ich mich vor einiger Zeit zusammen mit einem Esel auf den längsten bulgarischen Wanderweg – „Kom Emine“ vom Berg Kom an der serbischen Grenze zum Kap Emona am Schwarzen Meer. Am Ende war meine Wanderung quer durch Bulgarien mein ganz persönlicher Jakobsweg und eine Heldenreise, auch Dank meiner treuen Begleiterin, meiner Eselin Raina Velitshka.
Damit aus uns eine Einheit werden konnte, musste ich Vertrauen zu ihr aufbauen, so dass wir immer mehr zu einem alten Ehepaar wurden, das sich blind und ohne viele Worte versteht. Auf den 40 Tagen unserer Wanderung über 750 Kilometer hat sie nicht nur mein Gepäck getragen, sondern mir auch so manche Lektion erteilt. Nach dieser Erfahrung rufe ich inspiriert von Nietzsche dazu auf, nicht das Kind im Manne, sondern den Esel im Menschen zu entdecken.
Natürlich gab es auch im Außen Dinge zu entdecken. Allen voran eine Esel-Rallye in der zentralbulgarischen Stadt Gurkowo, durch die wir durch Zufall kamen. Ich hatte zuvor noch nie etwas von dieser Rallye gehört – und auch nicht, dass es in dem Ort ein Esel-Museum gibt. Das bulgarische Nationalradio berichtete zum Welttag des Esels am 8. Mai über die Veranstaltung, die landesweit unter dem Namen „Bio-Rallye“ bekannt ist. Und dass bereits lange vor dem „Bio-Hype“ hierzulande. Ganz genau war es das Jahr 1971, als Studenten das einzigartige Event für Esel mit Wagen ins Leben riefen, um ihren Geburtsort berühmt zu machen. Es ist das weltweit erste Rennen dieser Art und dementsprechend patentiert.
Auf dem Spaß-Event gibt es verschiedene Disziplinen, zum Beispiel ein Wettrennen für Eselskarren und ein sogenanntes Nackt-Reiten. Dabei sind aber nicht die Reiter nackt, sondern die Esel ohne Sattel. Doping-Mittel wie Peitschen, Pferdebremsen und scharfe Paprika sind verboten. Außerdem gibt es eine „Misswahl“ für die schönste Eselin. Last but not least tragen auch die Namen der Teilnehmer zur Erheiterung bei. Im September 2020 beispielsweise hieß einer der Esel „Coronavirus“.
Nach meiner Wanderung wurde ich vom Bürgermeister von Gurkowo als Ehrengast zur Esel-Rallye eingeladen. Mein Freund und Fotograf Holger Groß hat mich begleitet und diese Fotos von dem weltweit einmaligen Event gemacht, an dem vor jetzt zehn Jahren nur noch 13 Esel teilnahmen. Danach gab es aus Mangel an Eseln mehrere Jahre keine „Bio-Rallye“ mehr, so dass ich befürchtet hatte, dass diese auch die letzte war.
Die allermeisten Esel in Bulgarien heißen übrigens Marko – wie mein Onkel. Um die gleichnamigen Männer zu versöhnen, sagt man in Bulgarien, dass nicht jeder Esel Marko heißt. Bulgarischer Humor in Reinform. Und auch folgender Spruch ist bekannt in Bulgarien, der ganz nebenbei die geringe Wahlbeteiligung von nur einem Drittel erklärt:
Stell einen Esel auf, und er wird gewählt!
Dabei ist, und das weiß man auch in Bulgarien, der Esel ein sehr kluges Tier, das nur allzu oft schlecht behandelt wird. Ich würde sogar von Esel-Weisheit sprechen. Denn was gemeinhin als stur bezeichnet wird, ist dem Umstand geschuldet, dass der Esel kein Fluchttier ist wie das Pferd. Er rennt nicht vor Problemen fort. Eine Eigenschaft, die ich mir auch von uns Zweibeinern wünsche. Bereits George Orwell wusste um die Klugheit des Esels. In seiner Fabel „Farm der Tiere“ schuftet sich das Pferd Boxer zu Tode, was dem Esel Benjamin nicht passieren kann. Dieser kann sogar lesen und erkennt, dass es nicht der Notarzt ist, der den Freund Boxer abholt und den die anderen Tiere in ihrer Unwissenheit bejubeln, sondern der Notschlachter.
Auch die bulgarischen Esel wurden, nachdem ihre Besitzer gegangen waren, nur allzu oft zu Wurst verarbeitet. Das Motto der Bremer Stadtmusikanten, unter ihnen ein Esel, dass man etwas Besseres als den Tod überall findet, trifft auf Bulgarien nur bedingt zu. Die Nachfrage nach fettarmem Eselfleisch, reich an Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen, ist groß, insbesondere in Italien und Frankreich. Da der Export oft über Griechenland erfolgt, haben sich bereits vor Jahren an der Grenze die „Tierärzte im Einsatz“ angesiedelt. Die Idee der mit Geldern aus der Schweiz finanzierten Stiftung war, die Menschen zu schulen, wie sie mit ihren Eseln umgehen sollen. Dies hatten viele verlernt. Man soll zum Beispiel Esel nicht allein halten, denn sie sind soziale Tiere. Auch sollten sie nicht in dunklen Ställen stehen. Und anstelle von viel frischem Grün soll man ihnen lieber Heu geben, denn ihre Heimat ist der Nahe Osten und Nordafrika. Dann darf es auch mal eine Distel sein, aber auf keinen Fall Jakobskreuzkraut oder andere giftige Kräuter. Die Hufpflege spielt auch eine große Rolle bei der Schulung durch die „Tierärzte im Einsatz“.
Um zu verhindern, dass weiterhin Esel im großen Stil das Land verlassen, hat man selbst Ställe gebaut, um Esel in einem Gnadenhof aufnehmen zu können. So ist das „Tal der Esel“ im Dorf Banichan bei der Stadt Goce Deltshev unweit der Grenze zu Griechenland entstanden. Völlig ungeplant, was aber in Bulgarien nichts Besonderes ist. Aus einem Ausflug ans Meer kann dort eine Fahrt ins Gebirge werden.
Aktuell werden immer mehr Esel wegen ihrer Milch gehalten. Aus Eselsmilch werden Kosmetika und Kindernahrung hergestellt. Kleopatra und Nofretete sollen in Eselsmilch gebadet haben, damit ihre Haut samtig und weich wird. Immer mehr Babys sind gegen Kuhmilch allergisch. Deswegen Eselsmilch, von der ein Liter allerdings bis zu 200 Euro kostet. Darüber hinaus ist „Eselsmilch“ auch eine bulgarische Weißweinmarke, allerdings eine recht süße. Aber auch die richtige Eselsmilch schmeckt leicht süßlich.
Nicht wegen des süßen Weins, sondern wegen des „Corona-Wahns“ kehren seit einiger Zeit Bulgaren in ihre Heimat zurück, wo der Umgang mit dem Virus vergleichsweise entspannt war. Und mit ihnen kommen auch Esel, wenngleich nicht als Arbeitstiere, sondern als Freunde und Therapeuten. Der Italiener Michele Crescentini beispielsweise hat zusammen mit seiner Frau Oxana, einer Bulgarin aus Bessarabien, eine Eselfarm im Rilagebirge knapp eine Stunde südlich von Sofia. HappyDonkeys, so der Name ihrer Farm, bietet Eselwanderungen von einer Stunde bis zehn Tagen Dauer. Ich selbst habe die Idee, in Bulgarien einen Rückzugsort für Autoren ins Leben zu rufen, an dem es auch Esel gibt. Es wäre das erste „Writers Retreat“ mit Eseln. Wer nicht nach Bulgarien reisen möchte, um Kontakt zu seinem inneren Esel aufzunehmen, kann dies auch hierzulande tun. Beispielsweise bei den „Eselfreunden“ im Havelland und beim „Eselwerk“ im Harz.
In Deutschland legen sich Schäfer Esel zu, um ihre Herde vor Wölfen zu schützen. Oliver Spies aus der Rhön sagt, diese Tiere würden richtig Rabatz machen, wenn ein Wolf käme. Gegen ein ganzes Rudel könnten sie aber nichts ausrichten. In Bulgarien sagt man, dass ein Esel sich direkt mit einem Wolf anlegen würde, um seine Herde zu schützen. Ob dies stimmt oder eher eine Balkanlegende ist? Wer weiß das schon so genau. So oder so, wir können viel von dem oft völlig verkannten Tier lernen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass eine Wanderung mit einem Esel ein ganzes Leben verändern kann – wenn man bereit dazu ist.
Gerade erreicht mich die Nachricht, dass am 6. September wieder eine Bio-Rallye in Gurkowo stattfinden wird. Wie viele Esel mit Wagen dieses Jahr teilnehmen, das konnte mir die Verantwortliche, Marijana Dimitrowa, nicht sagen. Die Anmeldung für das Esel-Event mit Wagen hat gerade erst begonnen. Wer plant, dann in Bulgarien zu sein, sollte sich die „Bio-Ralley“ auf keinen Fall entgehen lassen. Esel-Verrückte, von ihnen gibt es einige, sollen sogar nur wegen dieser Rallye nach Bulgarien kommen.
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