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Buch-Tresen | 17.10.2024
Emil Cioran: Gevierteilt
Die französische Kunst des Philosophierens deutet das Gewesene und Gewordene treffender als die heutige Zeitgeistwissenschaft.
Text: Beate Broßmann
 
 

Nimmt man eines der vielen Bändchen mit Essays und Aphorismen des rumänisch-französischen Philosophen Emil M. Cioran (1911 bis 1997) zur Hand, bekommt man eine Ahnung davon, wie tief die geistige Kultur im Zentraleuropa der Gegenwart gesunken ist. Geschichtsphilosophie als solche existiert nicht mehr. In Deutschland liebte man es einst, intellektuelle Systeme zu bauen. Hegel war unser letzter spekulativer Geschichtsphilosoph. Später entwickelten Karl Marx und Oswald Spengler originelle Geschichtstheorien. Und im 20. Jahrhundert betätigten sich Historiker wie Golo Mann und Sebastian Haffner noch als Geschichtsdeuter. Danach verkam historische Forschung zu scheinobjektiver empiristischer Rekapitulation des gesellschaftlich Geschehenen. Heute reüssiert in Deutschland – wie einst in der sozialistischen Welt – eine ideologische Betrachtungsweise der Vergangenheit.

Die Franzosen waren philosophischen Systemen immer abhold. Sie unternahmen Versuche (Essays), Menschen und Zeit zu verstehen, und bekannten sich zu ihrer Subjektivität. Einige Aufklärer gossen ihre Ideen sogar in volkserzieherische Romane. In ihrer Tradition steht Emil M. Cioran – nur daß dessen Betrachtungen zwar ebenso geistreich, radikal und sprachlich brillant sind wie die seiner Vorgänger, diese allerdings an Pessimismus, Misanthropie und Verzweiflung weit überholen. Allein schon der Esprit Ciorans macht seine Lektüre zu einem – zugegeben masochistischen – Vergnügen. Und von seiner Aktualität können Sie sich im Folgenden selbst überzeugen:

Der Mensch macht die Geschichte; die Geschichte ihrerseits entmachtet ihn. Er ist ihr Urheber und Objekt, wirkende Kraft und Opfer. Er glaubte bisher, sie zu beherrschen, er weiß jetzt, daß sie ihm entgleitet, daß sie sich im Unlösbaren und Unerträglichen entfaltet: ein irrsinniges Epos, dessen Ende keine Zielvorstellung impliziert (…). Wenn man um jeden Preis möchte, daß die Geschichte einen Sinn hat, so suche man ihn in dem Fluch, der auf ihr lastet, und nirgendwo anders. Das einzelne Individuum kann nur in dem Maße einen Sinn besitzen, in dem es an diesem Fluch partizipiert. (…) Diese Fatalität, und einzig sie, erlaubt es, im Ernst von einer Logik der Geschichte zu sprechen.

Alles weist darauf hin, daß es mit der Menschheit bergab geht, trotz oder vielmehr wegen ihrer Erfolge … Jedenfalls ist es offenkundig, daß der Mensch sein Bestes bereits gegeben hat, und selbst wenn man das Auftauchen anderer Zivilisationen miterleben sollte, werden sie gewiß nicht den alten, nicht einmal den modernen ebenbürtig sein (…). Die Geschichte (…) ist nicht geneigt, die Möglichkeit eines Paradieses, selbst eines verfehlten, ins Auge zu fassen. (…) Das Paradies, allenfalls noch vorstellbar in der Vergangenheit, ist es in der Zukunft überhaupt nicht: dennoch wirft die Tatsache, daß man es vor die Geschichte gestellt hat, ein verheerendes Licht auf sie, so daß man sich fragt, ob sie nicht besser im Zustand der Bedrohung, der reinen Virtualität verblieben wäre.

Dazu einfach ein Einschub von Wolfgang Hübner, weil es passt und nicht besser formuliert werden kann:

Man muss weder Christ noch Katholik sein, um das blasphemische Spektakel der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris zutiefst skandalös und abstoßend zu finden. Vor aller Welt hat ein großes Land Europas die Dekadenz und den kulturell-geistigen Niedergang des Westens überdeutlich unter Beweis gestellt. Dass deutsche Leitmedien dieses unwürdige Spektakel als „grandios“ und „faszinierend“ bejubeln, zeugt nur davon, wie tief der Absturz des moralischen Niveaus, wie verbreitet das provokative Leugnen der eigenen christlichen Wurzeln auch hierzulande ist.

Wieder zurück zu Emil M. Cioran:

Je mehr Macht der Mensch erwirbt, desto verwundbarer wird er. Was er am meisten fürchten muß, ist der Augenblick, in dem er, wenn die Schöpfung einmal unter Kontrolle gebracht ist, seinen Triumph feiern wird – eine fatale Apotheose, ein Sieg, den er nicht überleben wird. Das Wahrscheinlichste ist, daß er verschwinden wird, bevor er all seine Pläne verwirklicht hat. Er ist bereits so mächtig, daß man sich fragt, warum er danach strebt, es noch mehr zu sein. Soviel Unersättlichkeit verrät ein auswegloses Elend, einen gehörigen Verfall … Keine Grenzen, kein Anderswo mehr, also keine Freiheit und keine Illusion mehr.

Und noch einmal Olympia, diesmal durch die Brille von Gerald Grosz:

Humor, ganz großen Humor haben die Franzosen bewiesen und uns, dem staunenden Olympia-Publikum, wie bestellt la grande comédie geliefert. Alles war dabei, die gesamte Gesellschaft wurde wie unter dem Brennglas abgebildet. Und dabei dürfen die pathologischen Auffälligkeiten einer vom gemeinen Hirnfraß erfassten Gesellschaft wie Blasphemie, Egoismus, Relativismus und Heuchelei nicht fehlen. Allein den abgeschnittenen und blutverschmierten Kopf von Marie Antoinette als kulturellen Beitrag Frankreichs zur Weltgeschichte zu präsentieren, hat schon was. Aber vielleicht ist die neue französische Identität jene, dass man das ganze Christentum mit Füßen tretend, das letzte Abendmahl als Hochamt einer non-binären, 72-geschlechtlichen Orgie darstellt und den geschundenen Leib Jesus Christus in den einer adipösen Wassertonne samt Glitzerkrone steckt.

Drei Zitate von Cioran:

Die Errichtung wie der Zerfall des kommenden Imperiums werden sich unter Umwälzungen vollziehen, die in der Vergangenheit ihresgleichen suchen. In dem Stadium, das wir erreicht haben, wäre es uns, selbst wenn wir wollten, unmöglich, uns zu bessern und in einem plötzlichen Ruck der Vernunft umzukehren. Unsere Perversität ist so virulent, daß unsere Reflexionen über sie wie auch unsere Anstrengungen, sie zu überwinden, sie verstärken und verschlimmern, anstatt sie zu schwächen.

Es ist zweifellos ärgerlich, daß wir der Endphase des geschichtlichen Prozesses in dem Augenblick entgegentreten müssen, da es uns, weil wir unsere alten Glaubensansichten liquidiert haben, an metaphysischen Mitteln, an substanziellen Absolutheitsreserven fehlt. Von der Agonie überrascht, stehen wir, um alles beraubt, unmittelbar vor diesem kitzelnden Albtraum, den all jene kennengelernt haben, die das Privileg hatten, sich mitten in einem kolossalen Zusammenbruch zu befinden. (…) Und wenn die Idee des Unerbittlichen uns verführt und uns aufrechterhält, so deshalb, weil sie trotz alledem einen metaphysischen Rest enthält und die einzige Öffnung darstellt, über die wir noch verfügen, zu einem Schein von Absolutem, ohne den niemand existieren kann.

Wird der nachgeschichtliche Mensch, ein völlig vakantes Wesen, fähig sein, in sich selbst wieder das Zeitlose zu erreichen, das heißt alles, was durch die Geschichte in uns erstickt wurde?

Dieser diabolische Prophet konnte offenbar sogar bis ins Deutschland der Gegenwart blicken:

Der Literat ist weniger fähig als irgend jemand, das Funktionieren des Staates zu begreifen; nur während der Revolutionen beweist er eine gewisse Kompetenz, eben weil die Herrschaft hier abgeschafft ist und er im machtleeren Raum die Fähigkeit hat, sich vorzustellen, daß man alles mit einer Phrase lösen kann. Ihn interessieren weniger die freien Einrichtungen als die Verfälschungen und die Vorgaukelei von Freiheit.

Emil M. Cioran: Gevierteilt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Original (französisch) von 1979.

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT.

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