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Rezension | 05.12.2024
Eine Diva gegen den Krieg
Ein Abend mit Gina Pietsch in Frankfurt am Main, der vieles wieder aufrührte – vom Lateinunterricht über Brecht bis zur Verführbarkeit der Menschen.
Text: Ulrich Gausmann
 
 

…nicht mehr auffindbar nach dem dritten.

Der Samstagabend naht unerbittlich. Was liegt an? Fernsehen? Nö, dem ÖRR-System keine Minute! Lesen? Der Bücherturm reizt nicht so wirklich. Eine Flasche Rotwein kippen? Auch keine Alternative. Also raus, etwas unternehmen. Vor einigen Tagen erst hatte ich auf der Seite des Freidenker-Verbandes eine Veranstaltung entdeckt, die mich interessierte. Titel: die Schlusszeile von Brechts Andenken an Karthago:

Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.

Das Lieblingszitat meines damaligen Lateinlehrers, das von Cato dem Älteren überliefert ist, lautete: Cathaginem esse delendam. (so lernt man den aci) Im Studium musste ich eine Seminararbeit über die drei Punischen Kriege schreiben, erinnerte ich mich dunkel. Um Latein ging es nicht an diesem Abend. Also, auf nach Frankfurt in den Saalbau Gutleut. Auch eine historische Adresse. Dort hatte die KPD der Westzonen in der Nachkriegszeit ihren Sitz. Entschuldigung, aber ich bin eben auch Historiker. So etwas merke ich mir.

Es war ein beeindruckender Auftritt von Gina Pietsch, am Piano begleitet von Bardo Henning, der einen eigenen Text verdient hätte. Wer ist Gina Pietsch? Sie war Mitglied im „Oktoberklub“, im ersten Singeklub der DDR. Deren Welthit: „Sag mir, wo du stehst?“ Ein Ohrwurm. Ich habe ihn mitgesungen in den 1980ern beim Festival des politischen Liedes in Berlin. Anschließend gründete Gina Pietsch mit anderen die Gruppe „Jahrgang 49“. In Leipzig studierte sie Germanistik und Musik, wurde später von Gisela May im Chanson ausgebildet und absolvierte bei Ekkehard Schall ein Schauspielstudium. Lauter berühmte Namen. Eine Brecht-Expertin, aber nicht nur. Soloabende, Lehrtätigkeiten, Auszeichnungen.

Wir erleben einen „Abend gegen Kriege“. Die Musik- und Sprechstücke gehen unter die Haut. Brecht natürlich, aber auch Tucholsky, Else Lasker-Schüler, Kästner, Fühmann, Franz Josef Degenhardt, Gerhard Gundermann. Insgesamt 31, ein langer Abend.

Gina Pietsch, Jahrgang 1946, hat nichts von ihrer Präsenz und ihrer vollen Stimme verloren. Eine Diva. Und Entschlossenheit gegen die Kriegstreiberei, gegen die Hetze gegen Russland (früher gegen die Sowjetunion) und die Verführung der Menschen für die Eroberungsgelüste der Kriegsindustrie und ihrer politischen Steigbügelhalter „Justav, erobere nischt“, zitiert sie Robert Gilbert. Dem Ersten Punischen Krieg der Antike entsprach der Erste Weltkrieg der Gegenwart, mit dem das Programm begann: „Weltkrieg Nr. 1“ von Georges Brassens, von Väterchen Franz vorgetragen. „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“ fragte Kästner schon 1928. 1937 „Mein Bruder war ein Flieger“ aus Brechts „Kinderliedern“. „Das Lied von der Moldau“ aus „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“, von Hanns Eisler 1943 vertont. Franz Josef Degenhardt hält dagegen: „Mit aufrechtem Gang“, das Lied „Wolgograd“. Dann ruhten die Waffen, 1945. Nach dem Zweiten Krieg. „Nimm Platz am Tisch“ lud Brecht 1949 ein. „Der Krieg ist abgesagt worden“, schreibt er. „Ihr seid müd, Häuser zu bauen und nicht darin zu wohnen. Wir glauben, ihr wollt jetzt das Brot essen, das ihr gebacken habt. Warum das goldene Zeitalter noch aufschieben? Wir leben nicht ewig.“ Gina Pietsch endet mit Gerhard Gundermanns Hymne: „So wird es Tag“. Sie singt:

So wird es Tag. Und nicht anders. So wird es ein Leben. Wenn wir nicht wie tote Fliegen kleben. An dem süßen Leim, zu dem man Schicksal sagt.

Vor meinem inneren Auge die Bilder von damals, von 1998, als Gundermann & Seilschaft im „Tränenpalast“ (der ehemaligen Ausreisehalle Bahnhof-Friedrichstraße) sangen. Ich war dabei, meine Tränen rollen trotzig. Danke Gina, danke Bardo für diesen Abend voller Wahrhaftigkeit, Mut, Poesie und Kraft! Noch einmal Gundermann:

Wenn die Bäume in dem bittren Schnee erfrieren, Bitt ich Gott, es sei der Wald vor deiner Tür. So versuch die Schwefelpilze zu dressieren – oder werde atemlos und stirb mit mir.

Mehr als berührt nachts im Bett – beseelt und glücklich. Ein Samstagabend, der mich glücklich machte. Und die Melodie im Ohr: Sag mir, wo du stehst? Ich habe meine Antwort gefunden.

Ulrich Gausmann ist Autor des Buchs Wirtschaft und Finanzen neu gedacht.

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Bildquellen: Gina Pietsch 2011 in Berlin. Foto: Britta Pedersen, picture alliance / dpa