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Kommentar | 06.03.2025
Ein schnelles Angebot
Auf den letzten Metern etablieren die Ministerien unter Lisa Paus und Nancy Faeser noch eine besondere Beratungsstelle.
Text: Brit Gdanietz
 
 

Man bekommt den Eindruck, Teile der noch amtierenden Bundesregierung, in diesem Fall das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFFSJ) unter der Leitung von Lisa Paus (Die Grünen) sowie das Bundesministerium des Inneren (BMI) unter Nancy Faeser (SPD), entwickeln immer neue Tätigkeitsfelder, deren Nutzen für die Allgemeinheit zumindest angezweifelt werden darf.

Man kann nur verwundert den Kopf schütteln über die wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen Beratungsstellen zu Themen, die mit dem Alltag und den Nöten der meisten Menschen wenig bis nichts zu tun haben. In Zeiten, in denen es nahezu täglich Berichte zu überforderten und unter Personalmangel leidenden Bürgerämtern gibt, die mit Anträgen über Jahre im Rückstand sind, fehlt vielen Menschen das Verständnis für die Notwendigkeit solcher Art Angebote.

Auf der Seite des Bundesfamilienministeriums kann man neuerdings einen „Beratungskompass Verschwörungsdenken“ entdecken, der allen Betroffenen und Ratsuchenden offensteht und Teil eines gemeinsamen Projekts des Familienministeriums und des Ministeriums des Innern ist. Es läuft bereits seit März 2024 im Rahmen „Demokratie leben“ und wird umgesetzt von den Nichtregierungsorganisationen Violence Prevention Network, der Amadeu Antonio Stiftung und modus – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung. Alle drei Organisationen haben sich der Extremismusprävention verschrieben.

Ohne Frage – Extremismusbekämpfung ist ein wichtiger Punkt. Hierzu gibt es bereits viele Organisationen und Initiativen. Ob allerdings das Phänomen Verschwörungsdenken, welches keine neue Entwicklung darstellt, eine extra Beratungsstelle im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rechtfertigt, darf zumindest in Zeiten von alltäglichen, oft existenziellen Problemen wie dem Bearbeitungstau in Sozialämtern infrage gestellt werden.

Gerade in den letzten Wochen häuften sich Berichte über dramatische Zustände hinsichtlich der Pflege-Antragsbearbeitung in den Sozialämtern in Berlin. Berichte über hilfsbedürftige Menschen, die bei Ämtern über Monate niemanden erreichen, deshalb in finanzielle Nöte kommen und ihre Mieten nicht zahlen können. So ist zum Beispiel in einem Bericht der Berliner Zeitung die Rede von tausenden ungeöffneten Briefen und offenen Hilfsforderungen in Millionenhöhe.

Mitunter, so erfährt man, warten Betroffene wegen Aktenstaus jahrelang auf dringend benötigte Hilfen. Nicht selten sind diese Menschen sehr betagt und krank. Demzufolge bleibt ihnen oft nicht mehr viel Zeit. Sie haben weder die Kraft noch die technischen Möglichkeiten, diese Kämpfe ohne fremde Hilfe durchzustehen.

Nicht nur in Pankow, auch in anderen Bezirken Berlins stellt sich die Situation ganz ähnlich dar. Der Leiter einer Pflegeeinrichtung bestätigt der Berliner Zeitung im Gespräch, dass Anträge auf Hilfe zur Pflege auch durchaus mal länger als zwei Jahre Bearbeitungszeit benötigen. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Hilfs- und Pflegeeinrichtungen müssen regelmäßig in Vorleistung gehen, was wiederum die Existenz dieser nicht mehr wegzudenkenden, dringend notwendigen Sozialdienste bedroht. Die Geschäftsführerin der AWO-Pflegestationen in Berlin, Marion Bruhn, sagte hierzu laut Berliner Zeitung:

„Wir können nicht zwei Jahre auf unser Geld warten. Die Mitarbeiter müssen bezahlt werden.“

Wegen der teils chaotischen Zustände forderte kürzlich auch das Amt Steglitz-Zehlendorf in einem Brandbrief mehr Personal.

Vor so einem Hintergrund fällt es schwer zu glauben, dass es für eine neue Beratungsstelle zur Hilfe für Opfer von Verschwörungsgedanken tatsächlich einen so großen Bedarf gibt. Beratungsstellen für nicht bearbeitete Anträge zu Pflegeleistungen auf der Seite des Ministeriums würden hingegen wesentlich lebensnaher erscheinen.

Unweigerlich fällt mir in diesem Zusammenhang die parlamentarische Anfrage der CDU/CSU zur Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen aus der vorigen Woche ein, die besonders bei Grünen, SPD und Linken viel Empörung hervorrief und als unzulässige Provokation deklariert wurde. Warum diese Aufregung?

Obwohl solche Anfragen als parlamentarisch verbrieftes Recht gelten, fragte Ricarda Lang in einem Interview mit der Welt: „Haben die sie noch alle?“ Und Lars Klingbeil, neuer SPD-Chef, forderte sogar die Rücknahme des Fragenkatalogs und wollte die Aufnahme der Koalitionsgespräche mit Friedrich Merz und der CDU davon abhängig machen, ob diese Anfrage zurückgezogen würde.

Laut Tagesschau sah die Abgeordnete der Linken, Clara Bünger, einen „beispiellosen Angriff“ auf die demokratische Zivilgesellschaft gegeben und fühlte sich an „autoritäre Staaten“ erinnert. Zum Verständnis: Im Webarchiv des Deutschen Bundestags von 2011 findet man zu den parlamentarischen Anfragen folgende Erklärung:

„Wenn Abgeordnete nicht kritisch nachfragen würden, könnten sie nicht die neben der Gesetzgebung wohl wichtigste Aufgabe des Parlaments erfüllen: die Kontrolle der Regierung. Ohne Informationen funktioniert dies nicht. Das Fragerecht der Parlamentarier sichert somit die Grundlage ihrer Arbeit. Anfragen wie etwa die ‚Große Anfrage‘ oder die ‚Kleine Anfrage‘ sind wichtige Informations- und Kontrollinstrumente, die im Parlamentsalltag eine große, in den letzten Jahren zunehmende Rolle spielen. In 60 Jahren Bundestag wurden so insgesamt 229.612 Anfragen und Einzelfragen gestellt.“

Möglicherweise liege ich mit meinem Gefühl falsch, aber an autoritäre Staaten fühle ich mich eher durch das Beschränken und Nichtbeantworten von parlamentarischen Anfragen erinnert. Die Beantwortung dieser, auch wenn sie mitunter unbequem erscheinen, sollte selbstverständlich sein. Den Parteien, die darin einen Nachteil für demokratische Prozesse erkennen, sei versichert, dass diese parlamentarischen Fragerechte immer in alle Richtungen funktionieren und durchaus opportun sind. Sie dürfen dem politischen Gegner in jedem Fall zugemutet werden.

Hinzu kommt, dass die Bevölkerung selbstverständlich Interesse und auch ein Recht darauf hat, zu erfahren, für welche sinnvollen oder weniger sinnvollen Projekte die Steuergelder verwendet werden. So könnten, gerade in Zeiten knapper Kassen, Budgets überprüft und evaluiert werden. Im besten Fall könnten Steuereinnahmen zielgerichtet in sehr dringend benötigte Stellen investiert werden, etwa in die Bearbeitung von Pflegegeld-Anträgen. Und vielleicht könnte sogar dem einen oder anderen Verschwörungsgedanken von verzweifelten Bürgern entgegengewirkt werden.

Brit Gdanietz ist Schauspielerin und Sprecherin und hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

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