Wegen ihrer Nähe zu ihm erfuhr sie alles, was ihm widerfuhr, als Erste. „Ich wurde ersetzbar“. Die 66 Seiten, die Annie Ernaux vor 23 Jahren über „Die Besessenheit“ geschrieben hat und die jetzt wieder da sind in der Suhrkamp-Bibliothek, haben es in sich. Es geht um Eifersucht und darum, wie dieses Gefühl Besitz von ihr ergreift und sie Tag und Nacht beschäftigt. So, wie sie es beschreibt, muss sie es selbst erlebt haben.
Sie hatte W. verlassen, nach sechsjähriger Beziehung – aus Überdruss und Unwillen – sie wollte frei sein.
So beginnt das Buch. Eines Tages erfährt sie, dass er wieder mit einer Frau zusammenzieht. W. stellte Regeln auf, wann und wie sie noch Kontakt haben können. Und plötzlich merkt sie, dass diese neue Frau in seinem Leben Besitz von ihr ergreift:
Ich dachte nur noch an sie – sie diktierte mir meine Gefühle.
Die andere Frau, wohnhaft in Paris im 7. Arrondissement, ist Dozentin für Geschichte an der Uni. 47 Jahre alt und damit mehr als zehn Jahre älter als W. Geschieden, eine Tochter.
Die Ich-Erzählerin versucht, weitere Informationen über diese Frau zu bekommen, aber W. bleibt verschlossen. Er will den Namen der „Neuen“ nicht nennen, was sich für sie wie eine „Leerstelle“ oder wie ein „Loch“ anfühlt. Sie stellt sich vor, was für ein Mensch diese Frau – ihre Feindin – ist, die in das Leben von W. getreten war. Sie beginnt zu vergleichen und zu bewerten. Überall glaubt sie, die „Neue“ zu sehen – in ihren Vorlesungen, auf der Straße oder im Restaurant.
Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine ganze Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet ist.
Ihr ist, als ginge die „Neue“ in ihrem Kopf ein und aus.
Ich war das besetzte Haus einer Frau, die ich noch nie gesehen hatte.
Sie sieht die andere Frau an ihrer Stelle, die Frau, die sie selbst nie wieder sein würde: verliebt und seiner Liebe sicher.
Sie wollte ihn zurück.
Durch diese andere Frau begehrt sie ihn wieder. Sie tut alles, um herauszufinden, wer diese Frau war, recherchiert und lässt die Suchmaschine „rattern“. Sie stellt sich vor, wie sie sie anruft und beschimpft, ja, sie verspürt sogar den Drang, diese Frau, die ihren Körper und Geist in Besitz genommen hat, aus dem Weg zu räumen. Sie will wieder frei sein. Wie ein „Perverser“ bezieht sie in ihre Recherchen auch die Freundin ihres Sohnes ein, die von einer neuen Vermieterin erzählte, auch Dozentin an der Uni im selben Fachgebiet wie die neue Frau von W.
Gleichzeitig hat die Ich-Erzählerin Angst, entdeckt und entlarvt zu werden als die Frau, die nicht mehr geliebt wurde, sich aber nichts sehnlicher wünschte. Ihre Obsession und ihren Schmerz im Schreiben bloßzulegen, ist etwas anderes als die Bloßstellung, die sie fürchtet, wenn sie die „Neue“ in ihrer Straße aufsuchen würde.
Schreiben bedeutet zunächst einmal, nicht gesehen zu werden.
Sie empfindet keine Scham dabei.
Ihre Vorstellungen der Liebesbeziehung von W und der „Neuen“ driften ab ins Absurde – sie will ihre Gedanken nicht objektivieren. Die Eifersucht versetzt sie in die „Selbstentleerung“ – sie vergleicht sich mit der „Neuen“, wertet sich dabei ab und spürt ständig Wahn und Schmerz. W. würde weiter mit dieser Frau zusammenleben in der Vertrautheit, die sie selbst so gut kannte.
Eines Nachts schreibt sie alles auf und schickt ihm einen Brief. Er antwortet nicht. Der Kontakt ließ nach und hörte dann auf.
Schreiben war für sie die Möglichkeit, das zu retten, was schon nicht mehr ihre Realität war, auch wenn es sich für sie anfühlte, etwas verloren zu haben.
Annie Ernaux, die 2022 den Literaturnobelpreis erhielt, beschreibt in klarer Sprache ihre Erfahrung mit der Eifersucht. Dies gelingt ihr so gut, dass es für den Leser körperlich spürbar wird. Ihre obsessiven Gedanken formen ein wahnhaftes Fantasiegebilde. Eifersucht ist eines der Lebensthemen der Autorin. Sie gibt sich selbst preis und zeigt ihre Wunden. Das Buch wurde hervorragend übersetzt von Sonja Finck.

Annie Ernaux: Die Besessenheit. Berlin: Bibliothek Suhrkamp 2025 (Originalausgabe Paris 2002), 66 Seiten, 20 Euro.
Nach einer langen Managementkarriere widmet sich Sabine Keuschen ihrer Leidenschaft für Literatur und arbeitet in einer Buchhandlung.