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Medien-Tresen | 29.11.2024
Die Radikalisierungsmaschinen
X oder Bluesky: Die Filterblase ist nur einen Klick entfernt. Dabei kommt der Diskurs unter die Räder. Unser Autor vermisst Komplexität und Widerspruch.
Text: Aron Morhoff
 
 

Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk brachte einiges ins Rollen. Die Umbenennung samt Rebranding des sozialen Netzwerks ließ viele hyperventilieren. Eine zentrale Plattform der Meinungsmache gehört jetzt diesem kauzigen Milliardär? War der nicht „offen konservativ“? Mit fragwürdigen Ansichten? Das geht so nicht, dachten viele und suchten fluchtartig nach Alternativen. Schnell kristallisierten sich Mastodon (Deutschland) und Bluesky (USA) als Ausweichplattform für diejenigen heraus, die dem alten Twitter den Rücken kehrten. Die Charakterschwäche, die viele Berufsempörte damit offenbarten, überraschte nicht. Die Musik wechselt und die Böhmermanns dieser Welt verließen die Party. Voll Schadenfreude diejenigen, die Elons X treu blieben. Sollen sie ruhig gehen – endlich unter uns. Jetzt dreht sich der Wind einmal in die andere Richtung, da suchen diese Schneeflöckchen schnell das Weite. War ja klar.

X: Auf die Feier folgt der Kater

Was stimmt: Jedes soziale Netzwerk, man denke an Facebook oder YouTube/Google, ist seit Jahren auf linksautoritär gebürstet und gehört irgendwelchen „demokratischen“ Medienmogulen oder Kapitalsammelbecken, die sich noch in jede supranationale Agenda einspannen ließen und während der Zeit der globalen Grundrechtseinschränkungen löschten und zensierten, was das Zeug hielt. Zum Teil bis heute. Damit musste das rechtskonservativ-bürgerliche oder schlicht freigeistige Lager jahrelang leben und sich wie ausgeladen fühlen, auch dann, wenn man sich an die Hausregeln hielt. Ist Elon Musk mit seiner „Meinungsfreiheit“ da nicht ein Segen?

Nun, diese Darstellung ist verkürzt. Mir fiel es vor einigen Monaten auf und viele Freunde bestätigten mich – X ist ätzend geworden! Schwer zu beziffern, schwer konkret zu machen, aber seien es die unerwünschten Empfehlungen im X-Feed, die viralen Werbe- und Spamanzeigen oder die Häufung morbider und geschmackloser Inhalte, die man nie sehen wollte. Dazu kam ein schleichendes Gefühl der Radikalisierung. Die Posts und Autoren wurden unverblümter in der Ansprache. Ich sah Nutzer eindeutiger für Trump und die AfD Stellung beziehen. LGBTQ doof, Wokies doof, Messerstecher doof. Ich dagegen fand X inzwischen doof und erklärte es mir zunächst mit dem Machtvakuum, welches die Aussteiger hinterlassen hatten. Das Overton-Fenster ist in eine klare Richtung verrückt.

Die rechte Opferrolle klagt oft von der bösen Zensur auf sozialen Netzwerken. Es gab Zeiten, da war diese Kritik angebracht. Der aufgebauschte „Sylt-Skandal“ im Frühjahr war jedoch ein Kipppunkt. Der „Gigi d’Agostino“-Song wurde zum Meta-Meme und schnell sah ich einen „Hey, was geht ab, wir schieben euch alle ab“ KI-Song im Netz mäandern, der mir tatsächlich auch mit Lachsmiley von Freunden zugeschickt wurde. Die Jugend wählt rechts, TikTok und so. Man schaue sich mal dieses Video mit Maximilian Krah an, um zu überprüfen, wie weit wir dahingehend gekommen sind. Es wurde unter anderem von offiziellen Kanälen des Compact-Magazin geteilt.

Was macht der Algorithmus?

Inzwischen ist auch klar, was geschehen war. Eine Studie der Queensland University of Technology legt nahe, dass X seit der Übernahme durch Elon Musk eine verstärkte Ausrichtung auf rechte Inhalte aufzeigt. Die Forscher können auch ein konkretes Datum festmachen: Seit dem Attentatsversuch auf Donald Trump am 13. Juli 2024 wurde eine signifikante Zunahme des Engagements für republikanisch orientierte Accounts beobachtet. Dies deutet darauf hin, dass der Empfehlungsalgorithmus zugunsten konservativer Inhalte angepasst wurde.

Und die Wokies? Ich habe mich bei Bluesky angemeldet, eine dieser linksgrünen X-Alternativen. Weil ich mal reinschauen wollte. Nach dem üblichen Anmeldeprozess folgte ich bewusst keinem Account, um den Algorithmus nicht zu beeinflussen. Mich interessierte, was mir Bluesky empfiehlt, wenn ich noch nicht einzuschätzen bin. Die Antwort: Stefan Rahmstorf, Maria Weisband, Ruprecht Polenz, Igor Levit und, naja, der SC Freiburg natürlich. Der sympathische Sportverein, der stets Haltung zeigt, im Kampf gegen rechts. Insgesamt also die üblichen Verdächtigen.

Der gespiegelte Mainstream

Mich interessierte, was rauskommt, wenn man das gleiche mit X macht. Ich wurde zunächst aufgefordert, mindestens zwei Accounts zu folgen. Zur Auswahl: Stefan Homburg, Boris Reitschuster, Karl Lauterbach, Ralph Ruthe, Alice Weidel, Olaf Scholz und viele weitere. Mit fiel sofort ins Auge, wie stark X die Polarisierung fördert. Wo ist die gemäßigte Mitte? Vielleicht gibt es die nicht mehr, dachte ich. Ich folgte Homburg und Reitschuster und bekam nur noch bürgerlich-konservative Kanäle vorgeschlagen. Weltwoche, Paul Brandenburg, Joana Cotar. Mit zwei Klicks in der Filterblase. X ist ein gespiegeltes Bluesky.

Beides gefällt mir nicht. Ich möchte in der Lage sein, Schattierungen wahrzunehmen. Nuancen. Die reale Welt ist nicht schwarz-weiß gestrickt. Echte Menschen und Weltbilder, abseits der Avatare, sind komplexer. Gespräche, die ich mit Nachbarn, Freunden oder im Gym führe, sind mosaikartiger und auch widersprüchlicher als die Einsen und Nullen. Die Einsen und Nullen der Radikalisierungsmaschinen.

Aron Morhoff studierte Medienethik und ist Absolvent der Freien Akademie für Medien & Journalismus. Frühere Stationen: RT Deutsch und Nuoviso. Heute: Stichpunkt Magazin, Manova, Milosz Matuschek und seine Liveshow "Addictive Programming".

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