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Welt-Tresen: Ungarn | 04.03.2025
Die Nation und der Lángos
Der Konflikt zwischen Ungarn und der EU spitzt sich zu. Europäischer Zentralismus oder Selbstbehauptung des Nationalstaats: Das ist hier die Frage.
Text: Éva Péli
 
 

Ungarn hat ein positives Nationalbewusstsein. So gibt es zum Beispiel gleich drei Nationalfeiertage: am 15. März, am 20. August und am 23. Oktober. Der 15. März war in den 1980er Jahren für uns Schulkinder ein Anlass, uns in der Kunst des Kokardenbastelns zu übertreffen. An diesem Tag wird an die Revolution 1848/49 erinnert. Das „Nemzeti dal“ – Lied der Nation – von Sándor Petőfi, das der Nationalpoet zuerst am 15. März 1848 im Café Pilvax in Pest vortrug, kennen Groß und Klein auswendig.

Die rot-weiß-grünen Nationalflaggen wehen an diesen Tagen an nahezu allen größeren Gebäuden und an jedem Fahrzeug des öffentlichen Nahverkehrs. Volkstänze sind lebendige Traditionen, die sich großer Beliebtheit erfreuen. Auch der umstrittene „nationale Tabakwarenladen“ (Nemzeti Dohánybolt) ist seit 2013 ein obligatorischer Bestandteil jedes Stadtbildes in Ungarn. Um in Budapest ungarische Restaurants zu finden, braucht es keinen Navigator, weil es sie an jeder Straßenecke gibt.

Lángos und die transnationale Welt

Allerdings ist es schwer zu ertragen, in der Budapester Downtown Einrichtungen wie Retrolángos zu sehen – ein Restaurant für Lángos (das in Öl gebratene ungarische Fladenbrot). Die Lángos werden dort auf Tellern serviert, mit irgendwelchen Toppings, für die vor einigen Jahren eine Lángos-Fläche noch ein unvorstellbarer Aufenthaltsort war. Aber was noch schlimmer ist: Sie werden am Tisch sitzend mit Messer und Gabel geschlachtet. Ein Eindringen in die Seelenwelt der Magyaren! Eine Verhöhnung der nationalen Küche, ein Verstoß gegen die traditionellen Rituale. Die Ungarn laufen im großen Bogen um solche Restaurants, schmunzeln missbilligend und winken ab: Touristen halt …

Lángos essen die Ungarn traditionell auf Wochenmärkten – nachdem sie die Körbe mit Gemüse und Obst vollgepackt haben. Dann bestellt man aus den üblichen vier Sorten ein Lángos – meist síma, also glatt, was ohne Füllung bedeutet, ohne etwas drauf. Dann reicht der Lángos-Bäcker die von Öl triefende, noch heiße Scheibe. Man greift zum groben Salz und zum Pinsel, der in einem mit Knoblauchöl gefüllten Einweckglas auf den Einsatz wartet, und bemalt die Scheibe. Wer in der Nähe steht, hört eine Weile Krachkrachkrach. Die knusprige Teigware wird rasch zu einem abnehmenden Halbmond. Schwupps nähern sich die Finger dem Gebiss und gleich folgt der Gang zum Mülleimer, wo das dicke Papier – das einzige Utensil des Lángos-Essens – landet. Fertig, Abmarsch! Die Fahne – vom Knoblauch – folgt dem Lángos-Verzehrer noch den ganzen Tag.

Bildbeschreibung

Solche Erinnerungen werden zum Fundament eines Zugehörigkeitsgefühls, einer Identität. Werden noch Zutaten wie Landesgrenzen, Völker, Abstammung, Sprache, Kultur und so weiter in adäquatem Maße beigemischt, entsteht eine nationale Identität, deren Basis die Nation ist. Für das Aussprechen dieses Wortes schämen wir uns in Ungarn nicht. Es gehe heute nicht um eine schlichte Ausgestaltung der Nation, wie sie im Europa des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung stand, sondern um die transnationale Welt, wie sie sich etwa in der Europäischen Union verkörpert. Aber dies nur unter der Voraussetzung der Nation, so der Politikwissenschaftler Erhard Crome in seinem neuen Buch zu dem „alten Thema“: „Nation, Nationalismus und der Krieg in der Ukraine“.

Trianon und das ungarische Dilemma

Für das Verständnis der ungarischen Nation müssen wir zumindest zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückkehren. 1920 hat Ungarn mit dem Friedensvertrag von Trianon etwas mehr als zwei Drittel seiner Fläche und mehr als die Hälfte der Bevölkerung verloren (von 18,2 auf 7,6 Millionen). Die Folgen gelten immer noch als nationale Tragödie. Getrieben von dem Verlangen, die durch den Vertrag von Trianon verlorenen Gebiete zurückzugewinnen, suchte Miklós Horthy, der Reichsverweser Ungarns in der Zwischenkriegszeit, die Partnerschaft mit Deutschland – mit der anderen, ungleich durchsetzungsstärkeren revisionistischen Macht Europas. Teile der Slowakei und den Nordteil Siebenbürgens erlangte Ungarn dann auch mit deutscher Unterstützung zurück. 1945 von nationalsozialistischer Herrschaft befreit und zugleich besiegt, musste Ungarn diese Gebiete samt ihrer Bevölkerung an die Nachbarstaaten zurückgeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ungarn Teil eines östlichen Bündnisses unter Führung der Sowjetunion. Grundrechte von Nationalitäten wurden zwar akzeptiert, doch es war nicht ratsam, der Nationalitätenfrage allzu sehr auf den Grund zu gehen.

Die Notwendigkeit, sich als Kleinstaat zu behaupten, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Minderheitenkonflikte in den Nachbarländern ließen das Trianon-Trauma nach der Wendezeit wieder aufleben, schreibt der deutsch-ungarische Journalist Boris Kálnoky in dem Sammelband „Ungarnreal“. In den 1990er Jahren wurde zudem im rechten politischen Spektrum die Forderung laut, „historische Ungerechtigkeiten“ zu korrigieren.

Die Gretchenfrage: Wer gehört zur Nation?

Für Ungarn kehrte die Frage zurück, wer denn nun als Angehöriger jener ungarischen Nation zählen sollte, die sich nach einem neuen Aufbruch sehnte. „Ich möchte im Geiste der Ministerpräsident von 15 Millionen Ungarn sein“, sagte József Antall, Ungarns erster Premierminister von zehn Millionen Ungarn nach dem Fall des Kommunismus im Juni 1990.

„Weil es im eigenen Land weiterhin zahlenstarke nicht-ungarische Minderheiten gab“, schreibt Werner J. Patzelt, Professor für Politikwissenschaft, in seinem Buch „Ungarn verstehen“, „kam ein ethnischer Nationsbegriff nicht in Frage“. Doch weil nun eben auch starke ungarische Minderheiten in den Nachbarländern lebten, sei ein rein staatsbezogener Nation-Begriff ebenso wenig brauchbar gewesen.

Bildbeschreibung

Nach dem zweiten Wahlsieg 2010 hat Viktor Orbán die weitere Ausgestaltung der nationalen Erinnerungspolitik zu einem seiner Ziele erklärt. Mit den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag von Trianon wurde ein Schlussstrich unter den Revisionismus gezogen. Die Einigung der Ungarn, die durch die Ausweitung des Begriffs der Nation und konkrete Schritte wie das Staatsbürgerschaftsgesetz oder den Tag der nationalen Zusammengehörigkeit erreicht wurde, machte dies möglich. Die ungarische Nation umfasst nun alle, die sich sprachlich oder kulturell mit Ungarn verbunden fühlen, unabhängig von ihrem Wohnort oder ihrer ethnischen Herkunft. Ungarn können ebenso in der weltweiten „ungarischen Diaspora“ leben wie auch als Minderheiten in Ungarns Nachbarstaaten.

Ungarn hat aus der Vergangenheit gelernt und verstanden, dass es anstelle von Nationalismus und Revanchismus auf Dialog und Zusammenarbeit setzten muss. Und Lángos entwickelt sich mehr und mehr zu einem schmackhaften und verbindenden Wahrzeichen, das allerdings noch nicht unter Markenschutz steht.

Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.

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Bildquellen: Éva Péli