81ca2a4054b44ffe021eda4bf130cbb0
Medien-Tresen | 01.11.2024
Den Gottschalk im Nacken
„Wetten, dass..?“ war gestern. Auch Fußball und Politiktheater können nicht verhindern, dass das Fernsehen als Lagerfeuer ausgedient hat.
Text: Aron Morhoff
 
 

Ob ich Genshin Impact kenne, fragt mich ein Schulfreund. Ich verneine und frage zurück nach Aya Velazquez, doch kenne die Antwort. Früher lebten wir in der gleichen Realität. Was hat sich verändert?

Ich lebe in einer Filterblase und Sie auch. Wir bewegen uns in informativen Käseglocken. Den Beweis erbringen die Influencer Mindy McKnight, Yousef Erakat, Marques Brownlee und Emily Kim, von denen Sie noch nie gehört haben.

Was die vier Namen verbindet? Keiner hat weniger als fünf Millionen Abonnenten auf YouTube. Mindy McKnight betreibt einen Beautychannel, Yousef Erakat ist Sport-Influencer. Marques Brownlee hat es mit Technik-Tipps und Produktreviews auf knapp 20 Millionen Abos geschafft. Und wer ist Emily Kim? Sie kocht asiatisches Essen und erreicht Klickzahlen, die die Einwohnerzahl europäischer Länder überschreiten. Willkommen in den Bubbles. Der Fernsehsender der Globalisierung heißt YouTube und hat fast ausschließlich Spartenkanäle. Doch wo bleibt die gemeinsame Medienrealität? Gibt es sie noch?

Vom globalen Volksempfänger zum linearen Fernsehen

Wir greifen zur Fernbedienung und wechseln das Programm – RTL. Hier kämpft Stefan Raab gegen Regina Halmich. Der Trashsender hat einen lukrativen Deal mit dem reichsten deutschen Entertainer geschlossen, um das Streamingangebot von RTL+ zu pushen. Der Showdown des Kölners gegen die Boxweltmeisterin ist zwar der älteste Trick in der Kiste, doch Raab war lange weg. Raab ist die Fernsehlegende schlechthin. Mit seinen TV Total-Knöpfen hat er nicht nur das Internetmeme vorweggenommen, er war auch ein früher Influencer. Dreist, schlagfertig, talentiert.

Wie wird er nach zehn Jahren der Abstinenz aussehen? Passt Rüpel Raab in eine politisierte und woke Medienwelt? Nicht der Boxkampf ist die gute Geschichte, sondern Raabs Wiederauferstehung. Das unterstreichen auch die folgenden Wochen, denn während das Publikumsinteresse beim Boxkampf wie erwartet hoch war, ging die Raab-Neuauflage im RTL-Pay-TV anschließend baden. Auch Raab erschafft keine kollektive Medienrealität mehr.

Was bleibt noch? Gottschalk? Wetten, dass..? war das Synonym des kollektiven Abendprogramms. Was samstags lief, wurde montags auf deutschen Pausenhöfen, in Büros und Lagerhallen besprochen. Heute ist der Alt-Boomer angezählt, die Empörungsgesellschaft ist unbarmherzig. Die jüngsten Medienauftritte des personifizierten Altherrenwitzes sind regelrechte Schauprozesse: So geht es nicht mehr. Medienprofi Gottschalk hat eine dicke Haut, doch der Zeitgeist ist ein Henker mit scharfem Fallbeil.

Wer kann heute noch Gottschalk?

Fußball, darauf kann man sich wohl einigen, verbindet noch immer die Massen. Unter den Top 10 der höchsten je erreichten Einschaltquoten im deutschen Fernsehen befinden sich ausschließlich Länderspiele. Der Sport schafft es trotz aller Versuche der Politisierung noch immer, jeden anzusprechen. Er verbindet mehr, als dass er trennt. Im Stadion steht der taz-Student noch neben dem AfD-Maler, die Kicker-App ist bei Andreas Gabalier ebenso installiert wie bei Campino. Fußball als Nullmedium. Bleibt uns nur hohle Berieselung als Gesprächsthema?

Suchen wir weiter. In Whitney Webbs Podcast Unlimited Hangout sagt der Journalist James Corbett, dass neben Sport auch Politik letzte Meta-Bezugspunkte herstellt:

Der Zerfall der Massenmedien ist der Zerfall des Spektakels, das eine gemeinsame Kultur hervorgebracht hat. Wir können alle auf unsere frühe Kindheit zurückblicken, wo es den einen großen Film, die Folge von Friends oder Seinfeld gab. Jeder konnte darüber sprechen. Diese gemeinsame Kultur hat sich aufgelöst, da die Menschen sich im Internet verzweigt haben und nun in ihren kleinen Blasen leben. Aber ich würde sagen, dass das einzige gemeinsame Spektakel, das es gibt und das wirklich alle wieder an einen Tisch bringt, das politische Spektakel ist.

Whitney Webb nennt X übrigens eine Datenfarm für soziales Verhalten. Ihr Podcast und gerade das Gespräch mit James Corbett seien an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen. Mein Punkt: Es gibt also einen weiteren Gemeinschaftsraum neben Sportereignissen. Bei Scholz, Baerbock, Wagenknecht oder Höcke ist jeder grob im Bilde. Donald Trump ist ein weltweit verstandenes Symbol wie das goldene M oder Coca-Cola. Der Mathematiker Eric Weinstein nennt Trump „a meme of a meme of a meme“, gleiches gelte für Kamala Harris. Weinstein sagt das übrigens im Podcast von Chris Williamson, ehemaliger Love Island-Kandidat (Trash-TV) und heute ein Podcaster, der hunderte New York Times-Bestsellerautoren am Tisch hatte. Das ist mal ein Aufstieg und eine Trash-TV-Zweitverwertung zugunsten des Intellekts.

Die großen „Conversational Podcasts“ wie die Joe Rogan Experience nehmen heute eine bedeutende Rolle zwischen Counterculture und Mainstream, Medien und Politik ein. Sprechen Sie mal unter 40-Jährige auf Hart aber Fair an. Blackout. Für fünf Millionen Deutsche, vorrangig Generation Y und Z, bedeutet der Fernseher nicht mehr „Fernsehen“, sondern Streamingdienste und YouTube. Werte, Normen, Gesellschaftspolitik: Das wird für junge Menschen zunehmend in Podcastsesseln in Austin verhandelt. Das stimmt positiv, verweigert sich das Bedürfnis nach den anspruchsvollen Unterhaltungen bei Lex Friedman oder Steven Bartlett doch dem Trend der immer kürzeren Aufmerksamkeitsspannen.

Große Blasen – aber Blasen

Schafft Politik in Kombination mit sozialen Netzwerken heute also noch gemeinsame Medienrealitäten? Immer weniger, denn keiner schafft es mehr, jeden abzuholen. Nicht einmal, wenn zwei Giganten aufeinandertreffen. Als Trump vor wenigen Tagen bei Rogan saß, klickten zwar 40 Millionen Menschen binnen vier Tagen, doch beide sind als Konservativ-Rechte so geframt, dass ein gewisses Publikum aus Trotz niemals zuschauen wird.

Das liegt auch an den Algorithmen der sozialen Netzwerke und damit an Dynamiken der Spaltung, die zu Gottschalks Zeiten noch nicht griffen. Das „Freund-Feind-Denken“ wird einem durch Plattformen wie X förmlich antrainiert. Wer auch nur wenige Tage bei Musks Netzwerk angemeldet ist, geht schnell in einem Sumpf der Weltbildbestätigung unter. Das gab es bei Wetten, dass..? noch nicht. Da gab es zwar Zielgruppen, die wurden auf der Couch aber geschickt zusammengeschmolzen. Die Blasen zum Platzen gebracht wie Luftposterfolie.

So halten wir also fest, dass gemeinsame Medienrealitäten wegbrechen. Die letzten Ausnahmen sind singuläre Großereignisse (Olympia-Eröffnungsfeier, Trump-Harris-Debatte).

Eine weitere Erklärung dafür, warum Wetten, dass..? auch nach zahlreichen Anlaufversuchen nicht mehr funktionieren kann, liefert das boomende Trash-TV. Die fünfzehnminütige Außenwette in Baden-Baden oder das Froscharten-durch-Quaken-Erkennen schauen sich, verglichen mit der ADHS-Optik heutiger Müllsendungen, etwas langweilig an. Dschungelcamp und Big Brother waren gestern, heute schaut man Love Island, Ex on the Beach oder Das Sommerhaus der Stars. Das bietet Argwohn, Feindseligkeit und Drama. Für die heutige TikTok-Logik ist das besser ausschlachtbar als Thomas Gottschalk. Ist das alles tragisch? Nein.

Auf die Frage, wie er sich mit seiner neuen Rolle als Paria fühlt, antwortet Gottschalk: „Das ist das, was uns allen blüht, was uns zurecht geschieht und was normal ist“. Sein neues Buch heißt übrigens „Ungefiltert“, als spräche er über Blasen.

Aron Morhoff war Student an der Freien Akademie für Medien & Journalismus (im Premierenjahrgang).

Bildquellen: Melanie @Pixabay