Mein Gespräch mit Nicolas beginnt mit einer Anekdote. Im Lidl sah ich kürzlich einen alten Mann, über 85 schätze ich, der mit einer Gehhilfe einkaufte. Ich dachte, wahrscheinlich lebt er alleine und hat weder Frau noch Kinder, die für ihn einkaufen. Ein tragisches Bild. An der Kasse fragte er dann eine Mitarbeiterin, ob sie ihm noch schnell was holen könne, er hatte Seife vergessen und der Weg zurück durch den Supermarkt sei beschwerlich. Die freundliche Lidl-Angestellte brachte ihm, was er brauchte. Daraufhin fragte er, was das koste. Und sie sagte, das sei ein Doppelpack Kernseife, das koste 1,05 Euro, und er: „Okay, alles klar.“ Er packte es in sein Wägelchen und stellte sich ans Band. Er stand direkt vor mir.
Ich dachte, krass, wenn er fragen muss, was ein Stück Seife kostet, bevor er es final überhaupt annimmt, dann hat er einfach nicht so viel. So steht er an der Kasse und wird beim Bezahlen gefragt: „Haben Sie die Lidl Plus App?“. Natürlich verneinte er, er hat kein Smartphone bedienen können. Ich biss mir erst auf die Zunge, aber dann sagte ich zur Kassiererin: „Darf ich mal kurz was anmerken, also irgendwie ist das ja grade schon bezeichnend, dass dieser ältere Herr jetzt die Vergünstigungen der App nicht in Anspruch nehmen kann, weil er kein Smartphone hat. Das hat ja etwas von Altersdiskriminierung und Ausgrenzung.“ Und sie sagt: „Ja … wenn er kein Smartphone hat …“ Sie sagte es nicht einmal böse, mit bissigem Unterton oder mit Groll. Sie sagte einfach nur, dass es nun mal so sei.
Das ist der Anlass für dieses Gespräch mit dir, Nicolas. Sind wir schon beim Smartphone-Zwang?
Die Saat des iPhone 4-Werbespruchs geht jetzt auf: Das wurde beworben mit „If you don't have an iPhone, you don't have an iPhone“. Das iPhone sehe ich als Platzhalter für alles andere. Wenn du die Lidl App nicht hast, hast du die Lidl App nicht. Da schwingt ja schon dieses leicht Süffisante mit. Du bist also gut beraten, dir ein Smartphone und die dazugehörigen Apps zuzulegen.
Das Angebot, was man nicht ablehnen kann …
Ganz richtig. Was 2011 noch als kantiger Werbespruch rezipiert wurde, wird jetzt zur bitteren Realität. Und ich habe ja auch schon an anderer Stelle die Verbreitung des Smartphones mit der Verbreitung der Spritze verglichen. Haben oder nicht haben verschafft plötzlich Vorteile oder gewährt Zugang zu Dingen, die zuvor selbstverständlich waren. Sie wurden uns erst geraubt und müssen jetzt wiedererlangt werden, insofern, dass die Möglichkeit zur bargeldlosen Zahlung abgebaut wird, dass schon Kinder von zwölf Jahren ein Smartphone brauchen, um sich ein Bus- oder Bahnticket kaufen zu können. Es läuft de facto auf einen Smartphone-Zwang hinaus.
Der Journalist Norbert Häring hat dieses Phänomen am Beispiel der Universität Köln aufgezeigt, wo seit diesem Jahr Immatrikulation und Erstsemesterticket nur noch per Smartphone erhältlich sind. Das ist keine Zukunfts-Dystopie, das ist schon der Status Quo.
Ich habe vor einem Jahr eine Prognose gemacht, dass in der Zeit, in der das Deutschland-Ticket besteht, die ganzen Automaten abgebaut werden, mit denen man noch ein Ticket mit Bargeld ziehen konnte. Zu Zeiten der Fake-Pandemie war ich mit einer Freundin in München unterwegs und wir haben Menschen gesehen, die sich mit der Luca-App und ihren QR-Codes in Clubs angestellt haben. Hast du keine Luca-App, hast du keine Luca-App. Die Digitalisierung der ganzen Bevölkerung schreitet voran, die gesamte Bürger-Staat-Interaktion, verbunden mit wenigen Apps und Kontrollmechanismen.
Da ist ja oft die Rede von einer „Everything-App“.
Genau, die App für alles. Du siehst es jetzt auch bei der elektronischen Patientenakte, dass alles immer weiter zentralisiert wird. Du hast dann wenige große Knotenpunkte, auch bei der digitalen Identität, die in der EU gerade vorbereitet wird.
Die elektronische Patientenakte – wo stehen wir da gerade?
Das ist die Übertragung all deiner auch hochsensiblen Patientendaten auf eine Datenbank. Das Versprechen der Krankenkassen lautet, es gebe eine Art Schutzsystem, dass die behandelnden Ärzte deinen Handlungsverlauf nur dann einsehen können, wenn du dem zustimmst. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass solche Versprechen oft keinen Bestand haben. Der Überwachungs-Kapitalismus findet immer Wege, um an diese Daten heranzukommen. Karl Lauterbach hat darüber gesprochen, dass diese Daten „der Forschung übertragen würden“. Konkretisiert hat er das nicht. Man kann sich aber vorstellen, was passiert, wenn der biotechnologische Komplex an alle Patientendaten herankommt, die in Deutschland je erhoben wurden.
Interessant dabei ist das große Themenfeld Nudging. Es bietet keine Vorteile, sondern du willst als Nutzer einfach nur verhindern, dass du irgendwelche Nachteile hast. Da bin ich wieder bei meiner Lidl-App. Manche Leute denken, sie sparen jetzt zehn Cent bei jedem Produkt. Aber Lidl hat die Marge ja schon lange berechnet, die schenken dir nichts. Es kostet einfach für alle anderen mehr. Es ist ein Aufpreis, eine Strafzahlung dafür, dass du die App nicht verwendest. Das muss man ja mal verstehen. Das ist so hinterlistig und bösartig. Ist das nicht diese „ideologiefreie Ideologie“, von der ich im oppositionellen Diskurs oft lese?
Ja, es ist kein leiser Zwang, es ist ein lauter Zwang. Das war ja auch der ganze Sinn und Zweck von Corona. Vergleicht man den Sommer 2019 mit dem Sommer 2023 – da liegen Welten dazwischen, gerade im Kontext der Digitalisierung. Die Menschen hängen wie gebannt vor ihrem Smartphone. Es gibt mittlerweile auch eine wahnsinnige Abgestumpftheit in der Wahrnehmung. Die Beschallung im öffentlichen Raum … ich rede nicht von Musik. Das ist so ein Grundrauschen, das überall mitschwingt. Kids haben TikTok geöffnet und spielen das laut im Bus ab. So entsteht ein kakophonisches Ambiente. Es hat eine massive Abstumpfung stattgefunden, gewisse Gepflogenheiten spielen gar keine Rolle mehr. Insofern war Corona eine Phase der Umgewöhnung.
Ich weiß nicht, ob du den Bestsellerautor Robert Green kennst. Er sitzt zurzeit in dutzenden Shows und Podcasts und redet über alles Mögliche. Er sagte, wir sind es kaum mehr gewöhnt, mit Menschen zu sprechen, weil wir uns über Videocalls oft nur noch zweidimensional wahrnehmen. Ohne Profil, ohne Unterkörper, mit beschränkter Gestik und Mimik. Wir haben mittlerweile eine Kultur, in der wir mehr über Textnachrichten, Voicemails und Videocalls kommunizieren als im physischen Raum. Ich glaube, das geht vielen so, es gibt diese Homeoffice-Falle. Das macht Menschen unglücklich. Ich merke gerade massiv, dass Menschen weniger Sozialkompetenz aufweisen.
Absolut. Ich bemerke das ebenfalls.
Hast du eigentlich ein Smartphone?
Ich habe ein Smartphone, das ab Werk frei von Google geliefert wird. Ich habe mein Handy auf Schwarz-weiß umgestellt, damit die Farben und Dopamin-Reize nicht transportiert werden. Was ich auf dem Display sehe, ist auf die reine Information begrenzt. Ich habe die ganzen Google-Apps nicht drauf, also auch kein YouTube. Ich habe keine App, bei der ich Scrollen kann und massiv abgelenkt, also in den Bann des Smartphones gezogen werden kann. Telegram ist eine der wenigen Apps, die ich noch draufhabe, und da habe ich sehr viele Kanäle gelöscht. Ich habe die Benachrichtigungen-Funktion eingeschränkt, alles auf lautlos, und Menschen können mich nicht direkt anrufen. Mein Umfeld hat sich daran gewöhnt, dass ich nicht immer erreichbar bin. Uns wurde eingetrichtert, wir müssten 24/7 erreichbar sein, ich bin das nicht. Das möchte ich meinen Mitmenschen auch kommunizieren.
Wie lange bist du am Handy?
Diese Zeit könnte ich noch weiter einschränken. Ich merke, dass ich zu Ersatz-Suchtverhalten neige. Statt irgendwo rumzuscrollen, schaue ich mir viel Blödsinn an.
Soziale Medien haben auch viele Vorteile. Man kann sich Infos holen, sich bilden, mit Menschen in Kontakt treten und bleiben. Aber das Smartphone ist zum verlängerten Arm geworden.
Tom-Oliver Regenauer spricht von biodigitaler Konvergenz. So eine Art Mensch-Maschinen-Schnittstelle.
Ja, in den 1960ern hat man zwar auch schon einen Fernseher angemacht, aber es gab zwei Programme und er hat einem nicht in die Küche folgen können. Ich glaube, das Jahr 2007, die Erfindung des Smartphones, das wird auch in 500 Jahren noch ein historisches Datum sein. Das war eine Zäsur. Das hat eine anthropologische Komponente, es hat den Menschen verändert.
Überleg mal, im 16. Jahrhundert hätte ein Magier zu irgendeinem Fürsten gesagt, pass mal auf, ich kann mit einem Zauber machen, dass deine Untertanen mit einem Gerät in der Hand rumlaufen, in welches sie unentwegt reinschauen. Sie schauen da wie hypnotisiert rein, reden nicht mehr miteinander, sind geistig nicht mehr anwesend. Der Fürst hätte sofort ja gesagt, ja, belege die Menschen mit diesem Zauber. Ich weiß nicht, wie oft du Bus und Bahn fährst, aber da findet ja gar keine Interaktion mehr statt. Selbst Liebespaare sitzen nebeneinander und beide schauen auf den Screen.
Black Mirror.
Mein Chefredakteur bei Manova Roland Rottenfußer bezieht sich immer wieder auf diese Netflix-Serie. Es gibt diese Folge über ein Bewertungssystem. Letztens holte ich über eBay-Kleinanzeigen etwas von einer Dame ab und sie bedankte sich im Nachhinein mit den Worten: „Ich gebe Ihnen natürlich die fünf Sterne“. Ich will das gar nicht. Ich will nicht in einer Welt leben, in der wir uns gegenseitig bewerten.
Was ist der Maßstab? Was sind dann null Sterne. Man kann die Parameter dann so verschieben, dass man fünf Sterne erhält, wenn man besonders viel CO2 spart.. In der besagten Black Mirror-Folge kommt die Protagonistin irgendwann nicht mehr in öffentliche Gebäude rein, weil ihr Social Credit Score zu niedrig ist. Die Folge wurde vor Corona gedreht. Dann haben wir genau das erlebt.
Gleichzeitig wird der Wert von Analogem größer.
Ja, alles Physische scheint im Wert ungemein zu steigen. Ich habe mich in diesen Tagen abends mit Kerzen, Räucherstäbchen und einem Buch ins Wohnzimmer gesetzt. Man fährt sein Nervensystem mal runter. Man ist durch die Überstimulierung ja die ganze Zeit „on fire“ … ADHS. Ich will in keinen Fatalismus verfallen, aber ich habe das Gefühl, bei Smartphones ist es angebracht: Sie bringen sehr viel mehr Schlechtes mit sich als Gutes. Würdest du das in dieser Pauschalität unterschreiben?
Ich kann mir eine Zukunft mit Smartphones für die Menschheit nicht vorstellen. Gleichzeitig will ich auf gewisse Vorzüge nicht verzichten. Die Frage, die ich mir also stelle, auf die ich noch keine Antwort habe: Wie können wir gewisse Vorzüge behalten, aber von dieser Haltung wegkommen? Das sind erst Gedankenansätze, aber wir sollten die Technologie wieder nutzen, um mit dem Kumpel in San Francisco zu chatten, nicht mit jemandem, der in der gleichen Stadt wohnt. Mit dem sollte ich auf den Basketballplatz gehen. Man nutzt das Smartphone dann also wieder wie früher die SMS und schreibt sich nur die Uhrzeit und den Treffpunkt.
Es ging so schnell. Es gab irgendwann mal einen Kipppunkt. Ich hatte erst 2012 mein erstes Smartphone und 2013 ging es plötzlich los, da erfolgte die gesellschaftliche Sättigung. Auf einmal hatte jeder eins.
Viele dachten, okay, cool, das ist jetzt einfach ein Handy mit Touchscreen. Was das mit uns Menschen machen würde, haben wir, glaube ich, alle nicht kommen sehen.
Ich denke, man macht oft noch den Fehler, dass man das Smartphone so horizontal neben dem Radio, dem Fernseher und dem Laptop einordnet. Es ist aber mehr so wie die Entdeckung des Feuers, ein komplett neuer Entwicklungsschritt.
Ja, es ist, als würden wir eine Schubkarre und eine Kutsche nebeneinanderstellen und dann stellt sich plötzlich ein Elektroauto dazu. Es ist eine ganz andere Dimension.
Der Philosoph Matthias Burchardt erzählt oft diese wunderschöne Parabel, wie die Menschen sich in einer Utopie gemeinsam auf dem Marktplatz treffen und in einem gemeinsamen rituellen Akt ihre Smartphones in einem großen Feuer verbrennen. Weil sie aus Mündigkeit und Eigenverantwortung heraus merken, dass sie sich dem entledigen müssen. Weil wir sonst nicht klarkommen.
Schön. Super krasses Bild. Aber den Rauch wollte ich lieber nicht einatmen.
Aron Morhoff studierte Medienethik und ist Absolvent der Freien Akademie für Medien & Journalismus. Frühere Stationen: RT Deutsch und Nuoviso. Heute: Stichpunkt Magazin, Manova, Milosz Matuschek und seine Liveshow "Addictive Programming".
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