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Rezension | 25.11.2025
Corona im Kino
Ari Aster bringt in „Eddington“ das ganze Drama der westlichen Welt auf die Leinwand und wird dafür entweder verkannt oder verrissen.
Text: Michael Meyen
 
 

Eine „schwarze Komödie“, schreibt Wikipedia. Und: ein „modernen Horror-Westen“. Wahrscheinlich muss das so sein, wenn die Wahrheitsinstanz Nummer eins etwas nicht ignorieren kann. Um den heißen Brei herumreden. Auf keinen Fall erwähnen, dass es um Herrschaftstechniken geht und um das, was Patrick Lawrence „nationaler Sicherheitsstaat“ nennt. Und: die Leute um jeden Preis davon abhalten, sich selbst ein Bild zu machen. „Die Kritiken fielen gemischt aus“, steht unter der Überschrift „Rezeption“.

Falls sich Querdenker in den ersten Minuten freuen, dass Hauptdarsteller Joaquin Phoenix einen Maskenskeptiker spielt, würden sie bald eines Besseren belehrt. Aster teile in alle Richtungen aus, entlarve sowohl all die abstrusen Verschwörungstheorien, aber auch die Selbstgerechtigkeit meist junger, weißer Aktivisten.

Merke: Freu dich bloß nicht zu früh, wenn du den Trailer siehst. Ist alles ganz anders und lohnt sich eigentlich nicht. Der NDR spricht von einem „filmischen Tiefpunkt des Regisseurs“ („überladen und wirr“), und die FAZ macht das, was man im Feuilleton so macht, wenn man nicht weiter weiß. Ein bisschen über die anderen Filme von Ari Aster plaudern, Trump und den „Sturm auf das Kapitol“ einstreuen und Joe Cross, den Helden, gespielt von Joaquin Phoenix, zu einem der „vielen Irrläufer“ machen, „die sich den Überforderungen der Gegenwart mit einem übersteigerten Vertrauen in die eigenen Lösungsmöglichkeiten stellen.“

Bildbeschreibung Bild: Joaquin Phoenix beim Filmfestival in Venedig (September 2024). Foto: Harald Krichel, CC BY-SA 4.0

Ich glaube: Dieser Film überfordert Kulturjournalisten genauso wie die Hüter der reinen Lehre bei Wikipedia. Wer heute dort noch schreibt, kann nicht sehen, was alles in „Eddington“ steckt. Er darf es nicht sehen, weil er sonst seine Existenz in Frage stellen müsste. Teile und herrsche: Das ist hier das Thema. Schaffe Ereignisse, die die Menschen gegeneinander aufbringen. Erst Corona, dann „Black Lives Matter“. Stelle Kommunikationskanäle zur Verfügung, die nur schwarz und weiß kennen und dabei süchtig machen. Und wenn das alles nicht reicht, dann helfe ein wenig nach mit den Mitteln, die ein Militär- und Geheimdienstapparat so hat.

Das ist vor allem deshalb überzeugend, weil Ari Aster nicht bei Mattias Desmet stehenbleibt und seiner Idee von einer Massenbildung, die darauf baut, dass die Menschen heute allein sind, Angst haben, nach einem Sinn suchen und so gefangen werden können mit einer großen Erzählung. Es gibt solche Figuren in „Eddington“ – einen jungen Mann aus der Unterschicht zum Beispiel, der sich von einem blonden Mädel einreden lässt, dass er als Weißer gar nicht mitreden dürfe, wenn es um Rassismus oder Macht geht, und überhaupt Buße tun müsse als Reinkarnation der herrschenden Schicht. Sein Vater dazu am winzigen Abendbrottisch:

Dir haben sie wohl ins Hirn geschissen.

Der Sohn ist dabei weder isoliert noch ängstlich, sondern nutzt die Parolen für den Aufstieg. Die Spaltung, das lernen wir von Ari Aster, funktioniert, weil die Menschen vor Ort eine Geschichte miteinander haben und Konflikte, die oft jahrelang auf Eis liegen und plötzlich gewonnen werden können, wenn man auf den Zug der Macht aufspringt. Du verlierst, wenn du keine Maske trägst – wie unsinnig das auch immer sein mag.

Bildbeschreibung Bild: Ari Aster 2020. Foto: Kegrazie, CC BY-SA 4.0

150 Kinominuten, das gebe ich gern zu, reichen nicht für all das, was dieser Regisseur zu sagen hat. Es gibt keine Atempause – nicht einmal für einen alten Mann wie mich, der irgendwann das Bier wegbringen muss. Wahrscheinlich sind wir verwöhnt von Serien, die sich hundert Stunden Zeit nehmen können, um eine Geschichte zu entwickeln, in der die ganze Welt steckt. Ari Aster belässt es nicht bei BLM und Corona. Systematischer Missbrauch von Kindern und 9/11, Nanopartikel in mRNA-Stoffen und Politiker, die im Wortsinn Marionetten sind und einer Struktur dienen, die gesichtslos bleibt, sich einen Teufel um irgendwelche Regeln schert und den Streit ganz unten selbst mit Erzählungen füttert, die bei Wikipedia als „Verschwörungstheorien“ abgestempelt werden. Alle gegen alle – bloß nicht gegen die ganz oben. Das ist der Geist des Kapitalismus, der längst nicht mehr zurückzuholen ist in seine Flasche und in „Eddington“ für Bilder sorgt, die mir nicht so schnell aus dem Kopf gehen werden. Großes Kino.

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Bildquellen: Truth or Consequences, Drehort von Eddington. Foto: Maya West, CC BY-SA 2.0